Rolf MützenichSPD - Regierungserklärung zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten Wochen waren für alle extrem anstrengend. Viele sind an ihre Grenzen gekommen: Kinder und Jugendliche, Eltern, ältere Menschen, Pflege- und Medizinkräfte, Beschäftigte in Industrie und Handel, Soloselbstständige und Ordnungskräfte. Alle haben ihr Bestes gegeben. Selbst wenn wir in wenigen Monaten die Pandemie eingegrenzt haben sollten: Die Nachwirkungen werden bleiben, egal ob wir erkrankt waren oder nicht. Einige von uns haben Angehörige verloren oder Freunde, andere wissen von häuslicher Gewalt oder haben sie selbst erlebt. Wieder andere bangen um Bildungsabschlüsse oder ihren Arbeitsplatz. Vielen wird die Rückkehr zur scheinbaren Normalität schwerfallen.
Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund sind die gestern beschlossenen Maßnahmen eine weitere Last. Ja, man hatte nach all den Anstrengungen auf anderes gehofft. Gleichwohl sind die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz angemessen, notwendig und gut begründet. Sie erfordern nochmals große Strapazen und Disziplin; dass wissen wir. Die Erfolge sind sichtbar, aber zerbrechlich. Durch neue Mutationen wächst die Gefahr eines noch strengeren Lockdowns. Aber selbst wenn bei dieser Gratwanderung eine Perspektive erforderlich ist – und sie ist es –, dann geht es darum, die Frage zu stellen, wann Lockerungen möglich sind; und diese Fragen sind unerlässlich. Die Rückkehr zu einem weniger beschränkten Alltag muss anhand dynamischer und nachvollziehbarer Kriterien nach und nach entstehen. Durch Anpassungsfähigkeit und Transparenz können wir neue Freiräume schaffen. Angesichts der sozialen Bedeutung müssen davon zuerst Kinder und Jugendliche profitieren.
(Beifall bei der SPD)
Gleichzeitig bitte ich aber auch die Länder, die Kinder- und Jugendhilfe nicht zu vergessen. Auch hier brauchen junge Menschen Zuwendung. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten in der Pandemie Außerordentliches. Auch ihnen gilt unser großer Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Im Rückblick wird erneut offensichtlich, wie verantwortungslos diejenigen waren, die die vorhersehbaren Folgen kleingeredet, gar mit der Zahl von Verkehrstoten verglichen haben.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr richtig!)
Das war an Zynismus nicht zu überbieten.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Sie haben dazu beigetragen, dass manche Gefahren verkannt wurden. Sie haben sich schuldig gemacht. Und wenn jemand gegen die Verfassung in diesem Haus verstößt, dann sind Sie es.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)
Dabei verkennen wir nicht, dass Entscheidungsprozesse und Abwägungen öffentlich stattfinden müssen. Ein streitbarer, pluraler und fairer Austausch von Argumenten ist unverzichtbar, um Einsichten zu schaffen. Gerade wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier müssen dafür sorgen, dass Einordnungen stattfinden. Absolute Wahrheiten gibt es auch in dieser existenziellen Krise nicht.
Meine Damen und Herren, solange wir die Pandemie nicht erfolgreich eingegrenzt haben, muss der Staat immer wieder die individuelle und gesellschaftliche Sicherheit herstellen und gleichzeitig Freiheiten schützen. Fundamental bleibt dabei, soziale Stabilität und wirtschaftliche Zuversicht zu schaffen.
(Beifall des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])
Wir sind überzeugt: Nur ein starker und sozialer Staat kann diese Herausforderungen bewältigen. Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse der letzten Monate, und es ist die Grundüberzeugung meiner Partei von Anfang an.
(Beifall bei der SPD)
Dabei war es richtig, mit aller Kraft und finanziellem Engagement einzugreifen. Heute können wir feststellen, dass die deutsche Wirtschaft angesichts großer Hilfen besser durch die Krise kommt als andere Volkswirtschaften. Auch deswegen erwarten wir, dass weitere Wirtschaftshilfen jetzt endlich ankommen. Wir haben genügend Geld dafür bereitgestellt.
(Beifall bei der SPD)
Die finanziellen Hilfen sind wichtig, aber ohne Politik für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie für Familien ist alles andere vergeblich. Deswegen hat meine Fraktion von Anfang an dafür gestritten, dass das Kurzarbeitergeld nicht nur gewährt wird, sondern dass damit auch Perspektiven verbunden sind. Ich kann mich erinnern: Manche Diskussion im Koalitionsausschuss war nicht leicht gewesen, Frau Bundeskanzlerin, und ich bin froh, dass wir Sozialdemokraten uns bei der letzten Entscheidung dafür eingesetzt haben, dass ein zusätzliches Kinderkrankengeld gewährt werden kann eben für die Eltern, die keine verlässlichen Betreuungsangebote haben. Das war wichtig in dieser Krise, weil auch das Perspektiven schafft.
(Beifall bei der SPD)
Gleichzeitig will ich daran erinnern – wir bringen es in dieser Woche auf den Weg –, dass ein zusätzliches Kindergeld gewährt wird. Das ist angemessen angesichts der steigenden Ausgaben, aber ich glaube auch, dass es, wenn es gewährt wird, zusätzlich als Konjunkturimpuls wirkt. Auch dass Leistungsbezieher in der Grundsicherung jetzt einen einmaligen Beitrag bekommen, ist wichtig. Gleichzeitig hätten wir uns gewünscht, nicht nur den erleichterten Zugang bis zum 31. Dezember dieses Jahres zu gewähren, sondern auch, dass eine grundsätzliche Bereitschaft besteht, gerade aus der Pandemie zu lernen. Das sage ich nicht nur vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, sondern das ist auch ganz klar die Grundüberzeugung meiner Partei.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Impfungen bleiben der entscheidende Hebel zur Besserung. Wir können stolz sein: Früher brauchte man Jahre, um einen sicheren Impfstoff herzustellen. Wir haben es wesentlich schneller geschafft. Großer Erfindergeist war notwendig, und die Einsicht wächst, dass vieles möglich ist, wenn Menschen ihre Potenziale gemeinsam mobilisieren und nicht an Ländergrenzen Halt machen. Offenheit, Pluralität und Bildung sind die besten Antworten bei der Lösung komplexer Probleme. Auch das zeigt diese Pandemie.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mittlerweile wissen die meisten, dass die Fragen, die wir vor einigen Wochen zur Impfsituation gestellt haben, berechtigt waren, zumal es uns immer um Fortschritte ging. Heute haben wir eine überzeugendere Perspektive, und alle konzentrieren sich endlich auf noch bessere Bedingungen und Sicherheiten. Dass wir die Impfstoffherstellung weiter steigern können, ist ein hoffnungsvolles Zeichen. Der Deutsche Bundestag wird hierbei wieder ein entscheidendes Wort mitreden, auch durch ein neu zu schaffendes Gremium, welches unseren Sachverstand bündelt und die Arbeit der Fachausschüsse stärkt.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, dass wir trotz aller Probleme zuversichtlich in das noch junge Jahr starten können. In wenigen Wochen wissen wir, ob Geimpfte das Virus noch übertragen. Dann können wir Freiheitsrechte nach und nach zurückgewinnen. Wer heute mehr verspricht, handelt fahrlässig.
Was die Mehrheit der Menschen gemeinsam mit uns schaffen, ist jedoch mehr als nur die Bekämpfung der Pandemie. Es ging von Anfang an auch um die Verteidigung unseres demokratischen Gemeinwesens. Wie verletzlich Demokratien sind, zumal auch ältere, zeigt der Blick in andere Regionen der Welt: In den USA hat ein ehemaliger Präsident einen Staatsstreich angezettelt. Es waren verwirrende Bilder bei der Amtseinführung, dass ein Parlament durch Militär geschützt werden musste. Und immer noch ist es wahr: Ein leichtfertig herbeigeführter Brexit lässt nur Verlierer zurück. Wenn ich nach Italien schaue, bin ich zwar froh, dass man hoffen kann, dass ein Ende der Regierungskrise absehbar ist, aber dass in Demokratien so fahrlässig gehandelt wird, ist eine große Last, die auf uns liegt.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Deswegen: Ja, Demokratien sind empfindsamer als andere politische Ordnungen. Das macht sie angreifbarer. Gleichwohl ist die Anziehungskraft demokratischer Ideale ungebrochen; schauen wir nach Minsk, Budapest, Hongkong, Moskau, Yangon und Kampala! Um die Kraft der sozialen Demokratie zu stärken, haben wir uns der Pandemie ebenso entgegengestemmt – mit ganzer Verantwortung und Konzentration.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Jetzt erteile ich das Wort dem Fraktionsvorsitzenden der FDP, Christian Lindner.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7501661 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 209 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie |