Christian LindnerFDP - Regierungserklärung zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Regierungserklärung war dringlich; denn selten zuvor war die Politik der Regierung so erklärungsbedürftig.
Wesentliche Inhalte kannten wir aber bereits, nicht erst seit der Pressekonferenz vom gestrigen Abend oder der Unterrichtung der Fraktionsvorsitzenden; denn vorgestern bereits haben Medien berichtet über das, was das Bundeskanzleramt mit den Landesregierungen besprechen will. Während gestern das Parlament hier getagt hat und sich mit anderen Dingen beschäftigt hat, war für die breite Öffentlichkeit die Entscheidungsgrundlage der Ministerpräsidentenkonferenz bereits im Internet zum Download verfügbar. Ich rate ab, Frau Merkel, diesen Umgang mit dem Parlament zur ständigen Staatspraxis werden zu lassen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])
Aus gutem Grund haben drei Fraktionen dieses Hauses deshalb dazu geraten und dringend darum gebeten, dass Sie vor der Runde mit den Ländern den Deutschen Bundestag über Ihre Absichten und Grundlinien unterrichten. Damit haben wir nichts Unmögliches verlangt; denn im Vorfeld des Europäischen Rates entspricht das der Praxis der Regierung und entspricht dem Umgang der Regierung mit diesem Parlament. Das hätte die Möglichkeit geboten, dass Sie Ihre Maßnahmenvorschläge darstellen. Es hätte die Chance eröffnet, auch die wissenschaftlichen Grundlagen zu hinterfragen. Und es wäre vor allen Dingen darum gegangen, alternative Strategien hier in die Debatte einzubringen. Sie haben diese Möglichkeit leider ausgeschlagen – dabei wäre es eine Chance auch für Ihre Regierung gewesen, um Verständnis und Vertrauen der Menschen zu werben.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir haben es unverändert mit einer gefährlichen Pandemie zu tun. Wer die Gefahren, die mit der Covid-Erkrankung verbunden sind, relativiert, der handelt fahrlässig oder gar vorsätzlich. Aber wir leben nun auch ein Jahr in und mit dieser Pandemie, wir haben, wie die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat, gelernt. Die Infektionszahlen gehen zurück. Es gibt – zu langsame und zu beschwerliche, aber immerhin gibt es sie – Fortschritte bei den Impfungen. Deshalb und angesichts der großen Erschöpfung in unserer Gesellschaft waren die Erwartungen an die gestrige Runde groß.
Diese Hoffnungen sind enttäuscht worden; denn viele Menschen haben sich mehr erwartet als einen frischen Haarschnitt.
(Beifall bei der FDP)
Der wesentliche Ansatz Ihrer Strategie findet sich auch in dieser Vorlage – ich zitiere –:
Der Grundsatz „Wir bleiben zuhause“ bleibt das wesentliche Instrument im Kampf gegen die Pandemie …
Zitat Ende. – Wirklich? Auch nach einem Jahr noch? Trotz allem, was wir gelernt haben, hangeln wir uns seit Oktober/November von einem Lockdown, von einem Gipfel zum nächsten, ohne eine klare Perspektive.
(Zuruf von der AfD)
Das ist bestenfalls einfallslos; mit Sicherheit, Frau Merkel, ist das nicht alternativlos.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Christiane Woopen, die Vorsitzende des Europäischen Ethikrates, in diesem Haus von vielen sehr geschätzt und mit Sicherheit eine verantwortungsbewusste und umsichtige Persönlichkeit, hat dieser Tage in einem Interview Folgendes gesagt – ich zitiere –:
Seit … einem Jahr drehen sich diese Runden fast unverändert um das Gleiche: den Lockdown … Ich halte es für dringend erforderlich … eine Perspektive zu eröffnen, statt Durchhalteparolen zu verkünden.
Und weiter Frau Woopen:
Ich habe … kein Verständnis mehr dafür, dass man vorhandene Technologien nicht nutzt.
Wir haben dafür auch kein Verständnis mehr, Frau Merkel.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Warum orientieren wir uns nicht an Kommunen wie Tübingen oder Rostock? Wo sind die wirksamen und hier im Hause oft genug angemahnten Strategien zum wirklichen Schutz der vulnerablen Gruppen, und zwar nicht nur in Alten- und Pflegeheimen, sondern auch etwa durch die oft hier angemahnten exklusiven Zeitfenster für den Einkauf oder Taxigutscheine? Wo ist die breite Initiative, Luftfilter in die Praxis zu bringen? Wo setzen wir systematisch Schnelltests ein? Und warum wurde die Corona-Warn-App mit großen Erwartungen öffentlich vorgestellt und danach technologisch kein bisschen weiterentwickelt?
(Beifall bei der FDP)
Deshalb bleiben wir hinter unseren Möglichkeiten zurück, und deshalb orientieren wir uns ausschließlich am Stillstand, statt auch mit der Bedrohung durch das Virus neue Möglichkeiten für gesellschaftliches Leben zu eröffnen. Und die werden wir brauchen; denn wir können uns nicht sicher sein, dass dies die einzige Zoonose ist, mit der die Menschheit in den nächsten Jahren umzugehen hat. Wir können uns noch nicht mal sicher sein, ob es nicht dereinst eine Mutation dieses Virus geben könnte, auf die die Impfung eben nicht mehr die wirksame Antwort ist, zumindest nicht mit den vorhandenen Impfstoffen. Also brauchen wir jetzt Methoden und eine Infrastruktur, mit der wir die Pandemie besser ausbalancieren mit dem Gesundheitsschutz, der notwendig ist, aber auch mit der Freiheit, die die Menschen auch leben müssen.
(Beifall bei der FDP)
Über Monate haben wir uns bei den Inzidenzen an der Zahl 50 orientiert, obwohl sie eine politische Setzung ist,
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Des Deutschen Bundestages! Des Deutschen Bundestages!)
obwohl Oberbürgermeister, auch CDU-Oberbürgermeister, sagen, selbstverständlich können sie auch mehr als 50 Infektionen pro 100 000 Einwohner in der Woche inzwischen nachverfolgen. Wir haben uns auf diese Zahl von 50 in Deutschland fixiert. Und nun wird sie in der zentralen Bedeutung ersetzt durch die 35, und wir wissen, dass im Kanzleramt auch schon über die 10 als Zahl gesprochen worden ist. Dadurch dass die wesentliche Entscheidungsgrundlage ausgetauscht wird, ohne Vorbereitung, ohne klare Argumentation, gefährden Sie die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung insgesamt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Wo ist die Berechenbarkeit? Im Infektionsschutzgesetz übrigens wird ausdrücklich auch ein regionaler Zugang angemahnt; im von der Großen Koalition beschlossenen Infektionsschutzgesetz wird angemahnt, regional zu differenzieren. Tatsächlich haben wir heute bereits eine Vielzahl von Landkreisen mit Inzidenzen von unter 50, gar unter 35. Und trotzdem gelten dort die gleichen Beschränkungen wie in den Hotspots mit Inzidenzen von über 200. Da ist bereits der Zweifel an der Verhältnismäßigkeit angelegt, Frau Bundeskanzlerin.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Bruno Hollnagel [AfD])
Es ist richtig, Kitas und Schulen zu öffnen. Aber auch in Ihrer Regierungserklärung hier haben Sie gerade deutlich gemacht, mit welch hinhaltendem Widerstand aus dem Kanzleramt dies erfolgt. Herr Kretschmann hat das in der Runde dem Vernehmen nach gestern auch angesprochen. Warum stellt Frau Karliczek, finanziert mit öffentlichen Fördergeldern, in dieser Woche eine wissenschaftliche Studie zu der Frage vor, unter welchen Bedingungen, mit welchem Paket an Maßnahmen in der Pandemie die Förderung von Kindern und Jugendlichen in Kitas und Schulen möglich ist, wenn die eigenen Empfehlungen des Bundesbildungsministeriums im Bundeskanzleramt nicht ernst genommen werden?
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und der Abg. Dr. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE])
Sie öffnen die Friseure, obwohl das eine sogenannte körpernahe Dienstleistung ist und man sich nun wirklich sehr nahe kommt beim Haarschnitt. Das ermöglichen Sie, weil Sie sagen: Nun gut, da gibt es Hygienekonzepte, da wird die Maske getragen, und deshalb ist es verantwortbar, den Friseur zu öffnen. – Das ist richtig. Aber gibt es solche Hygienekonzepte nur bei den Friseuren, nicht in gleicher Weise im Sport, in Fitnessstudios, die auch gesundheitspräventive Wirkung haben? Gibt es diese Gesundheitskonzepte nicht auch im Bereich der Kosmetik? Sind sie ausgeschlossen beim Handel? Gar in der Gastronomie sind solche Hygienekonzepte denkbar. Deshalb trägt die Entscheidung für die Friseure bereits den Makel einer nichtsystematischen Ausnahme. Was wir brauchen, ist eine Systematik klarer Wenn-dann-Regeln, weil nur das die Berechenbarkeit für die Menschen und übrigens auch für die Behörden bringt.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD)
Diese Systematik in der Form eines Stufenplans war von Ihnen vor drei Wochen ja bereits auch angekündigt worden. Diese Arbeitsgruppe, falls sie tagte, hatte kein Ergebnis. Wir haben deshalb in dieser Woche einen Sieben-Stufen-Plan vorgelegt, mit dessen Systematik es möglich ist, regional zu öffnen.
(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist schon mal sehr gut! – Gegenruf von der AfD: Ja, dann klatscht doch!)
Und dieser von uns vorgelegte Stufenplan
(Zuruf von der CDU/CSU: Darf ich den noch mal sehen?)
ist natürlich getragen von unseren Grundüberzeugungen. Vielleicht stärker als andere Fraktionen hier im Haus setzen wir Vertrauen in die Eigenverantwortung der Menschen, und setzen wir darauf, dass es für große Probleme auch innovative technische Lösungen gibt.
Das muss nicht jeder teilen. Aber es gibt auch andere Stufenpläne: Innerhalb der Landesregierung von Rheinland-Pfalz mit Sozialdemokratie, den Grünen und FDP wird darüber nachgedacht. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein mit Union, Grünen und FDP war die erste, die einen solchen Stufenplan vorgelegt hat. Wem also unser hier vorgelegter Stufenplan, der liberalen Charakter hat, zu weitgehend ist, der findet mit Unterstützung der eigenen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern auch politische Alternativen.
Dass Sie als Bundesregierung dennoch untätig gewesen sind und den einmal nicht erfüllten Arbeitsauftrag einfach in die Zukunft fortschreiben, das zeigt, dass Sie in Wahrheit gar kein Interesse an einem solchen Perspektivplan haben, so notwendig er auch ist.
(Beifall bei der FDP)
Und deshalb, verehrte Anwesende, meine Damen und Herren, ist diese Regierungserklärung eine Enttäuschung. Sie ist bedauerlicherweise nur ein Weiter-So.
Mein letzter Gedanke. Wenn Sie schon den Lockdown jetzt weiter verschärfen – wer weiß, wie lange –, dann passen Sie Ihre wirtschaftlichen Hilfen auch an. Es ist ein schweres Versäumnis, dass die Sozialdemokratie und Herr Scholz immer noch nicht ihren Widerstand gegen das unbürokratischste, schnellste und wirksamste Instrument aufgegeben haben, Betriebe und Selbstständige zu unterstützen, nämlich den vollen steuerlichen Verlustrücktrag, und zwar auf die gesamten letzten Jahre seit 2017.
(Anhaltender Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Es wird immer mehr! – Gegenruf des Abg. Dr. Marco Buschmann [FDP]: Sie machen auch immer längeren Lockdown, Herr Brinkhaus!)
Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU, Ralph Brinkhaus.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7501662 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 209 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zur Bewältigung der COVID-19-Pandemie |