Susanne MittagSPD - Perspektive für Grenzkontrollen
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir kommen einmal ganz einfach wieder zum Thema zurück.
(Beifall der Abg. Gabriele Katzmarek [SPD] und Ulla Jelpke [DIE LINKE] – Gabriele Katzmarek [SPD]: Danke! – Zuruf von der AfD)
– Ruhe dahinten!
Zu Beginn: Die deutsche Sozialdemokratie steht zu offenen Grenzen in Europa. Wir alle haben lang genug dafür gekämpft, gestritten und gerungen, und wir werden das auch nie und nimmer aufgeben.
(Beifall bei der SPD)
Gerade Deutschland, im Herzen Europas gelegen – es ist der Staat mit den meisten Nachbarländern; das gibt es sonst nirgendwo in Europa –, hat ein ganz besonderes Verhältnis zu seinen Grenzgebieten, ein ausgeprägtes Interesse an offenen Grenzen, so wie die meisten, denke ich, hier im Plenum. Dies hat nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern ist auch ein Teil unseres tagtäglichen Lebens – in Grenzregionen und im ganzen Land. Gerade die Kolleginnen und Kollegen aus grenznahen Gebieten wissen, was ich damit meine: Da ist man, so wie ich, zum Beispiel schneller in Groningen als in Berlin oder München.
Im Jahr 2021 – wie auch schon im letzten Jahr und einige Jahre zuvor – ist es zum Glück ganz normal, dass die Arbeitskollegen, Freunde oder Familienangehörige jeweils auf der anderen Seite von nationalstaatlichen Grenzen leben. Was vor Jahrzehnten unvorstellbar gewesen wäre, ist heute Lebensrealität von Tausenden von Menschen in unserem Land. Ausnahmslos in jedem Grenzgebiet in unserem Land sind Ortschaften, an denen eine Staatsgrenze zu normalen Zeiten überhaupt nicht mehr wahrnehmbar ist, wo man gemeinsam Tür an Tür lebt, eine Gemeinschaft ist – gerade aus unserer historischen Verantwortung heraus eine echte Errungenschaft, die wir nie wieder aufgeben werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Umso bitterer und schmerzhafter sind die jetzigen temporären und lokal begrenzten Grenzkontrollen. Wir schauen der Realität ins Auge, und wir leben nicht in normalen Zeiten, aber wir wollen natürlich möglichst schnell wieder zurück dorthin.
Die einzelnen und breiten Maßnahmenbündel zur Bekämpfung der Pandemie – und ein Weg daraus – sind in der Vergangenheit und auch in dieser Sitzungswoche mehrfach hier debattiert, diskutiert, angesprochen und beschlossen worden. Zu diesen Maßnahmen – länderseitig, nicht vonseiten des Bundes – gehören nun einmal auch die vorübergehenden Kontrollen an den Grenzen zu Tschechien und Österreich. Hintergrund ist die von den hochansteckenden Mutanten des Coronavirus ausgehende Gefahr.
(Benjamin Strasser [FDP]: Die gibt es seit einem halben Jahr! – Bettina Stark-Watzinger [FDP]: Warum hat man denn nicht früher sequenziert?)
Wir müssen verhindern, dass die verschiedenen Varianten sich noch schneller und massiver in Deutschland ausbreiten. Das Bundesland Tirol ist schon seit dem vergangenen Spätsommer Risikogebiet, und jetzt ist es auch noch Virusvariantengebiet. Ähnlich in Tschechien: erst Risikogebiet, dann im Januar Hochinzidenzgebiet und jetzt dazu auch noch Virusvariantengebiet. Im Übrigen: Tschechien, wie erwähnt, hat es im Sommer andersherum genauso gemacht. Das ist eine brandgefährliche Lage und eine Gefahr, die wir einfach nicht ignorieren dürfen.
Die FDP spricht in ihrem Antrag nun von „Willkür“. Politische Willkür wären fehlende sachliche Gründe. Liebe Kollegen, Inzidenzwerte von fast 700 wie in Tschechien in Verbindung mit dem Wissen, dass die Virusmutante in dem Land weit verbreitet ist, ist ein sachlicher Grund und keine Willkür.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
An anderer Stelle kritisieren Sie, dass die Kontrollen keine konkret definierten Zeiträume umfassen. Das trifft so nicht zu. Das Innenministerium hat Start- und Zeitpunkte der lokal begrenzten Kontrollen genannt. Auch mit der jetzigen Verlängerung um eine Woche kommt das Innenministerium der erforderlichen zeitlichen Begrenzung nach. Alle Maßnahmen, auch hier im Parlament, unterliegen einer zeitlichen Begrenzung, und es braucht immer wieder eine Neubewertung von konkreten einzelnen Infektionsherden, Ursachen und die Abwägung von Maßnahmen auf ihre Geeignetheit, und das gilt eben auch für Grenzkontrollen.
Vollkommen klar ist uns natürlich, dass die Beschränkungen des Grenzverkehrs nie das erste Mittel sein sollten. Das ist es hier auch nicht. Auch in den konkreten Fällen an der österreichischen und tschechischen Grenze waren sie es nicht. Die oberste Priorität dabei ist immer noch ein zwischen den Ländern abgestimmtes Verfahren. Als Beispiel sehen wir das auf der anderen Seite zurzeit mit Frankreich. Es soll an keiner Grenze zu harten Grenzschließungen kommen, sondern zielgerichtete Konzepte geben mit dem über allem stehenden Ziel, Lokalisierung und Ursachen von Infektionsherden zu analysieren und die Ausbreitung des Virus zu stoppen, zumindest zu verlangsamen; denn übers Stoppen sind wir schon hinaus. Deutschland beschließt hierbei keine Maßnahmen in anderen Ländern, weder in Tirol noch in Tschechien, genauso wenig wie die bei uns Maßnahmen beschließen.
Die zweifelsfreie Identifikation als Mutationsgebiet haben Bayern und Sachsen dazu veranlasst, um temporäre stationäre Grenzkontrollen zu bitten. Um Grenzschließungen handelt es sich nicht, wie übrigens oft erzählt wird. Es sind Einschränkungen. Es sind Kontrollen mit klar definierten Ausnahmen. Diese reichen von familiären über wirtschaftliche bis zu medizinischen Aspekten. Bei mehr als 120 000 Kontrollen gab es um die 20 000 Zurückweisungen. Das wird schon einen Grund gehabt haben. Das befürchtete und im Antrag der FDP beschriebene große tagelange Verkehrschaos mit kilometerweiten Staus ist ausgeblieben. Das ist auch ein Verdienst der Bundespolizei,
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
die an den stationären Grenzkontrollen hervorragende Arbeit macht.
(Marian Wendt [CDU/CSU]: So ist es!)
Das ist ein Anlass für uns, sich für die kräftezehrende und teils immer noch gefährliche Arbeit der Beamtinnen und Beamten vor Ort zu bedanken.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Diese unterschiedlichen Einsätze der Polizei aus Anlass dieser weltweiten Pandemie ist ja mittlerweile zum Alltagsgeschäft geworden: Demonstrationen ohne Abstand – zurzeit ein bisschen weniger –, uneinsichtige und oft gewalttätige Zeitgenossen oder eben Grenzkontrollen in oder im Umfeld von Hochinzidenzgebieten. Herzlichen Dank dafür! Ich sehe große Zustimmung.
Aber wenn wir dann schon bei der Anerkennung – jetzt schaue ich einmal in Richtung Regierungsbank – von Arbeit und Gefahren sind, wäre es doch das Mindeste, wenn der Beamte bei einer Covid-Erkrankung nicht mehr nachweisen müsste, welcher Mitbürger anlässlich dieses Einsatzes diese Erkrankung bei Demos oder unübersichtlichen Lagen verursacht hat. Hier ist es die Verantwortung des Innenministeriums, im Sinne der Beamten zu handeln, und das nennt man laut Beamtenrecht Fürsorgepflicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Frau Kollegin, Sie haben auch eine Verantwortung.
Ja. – Wir warten auf eine dienstrechtlich sichere und praktikable Lösung und kein pauschales „Geht nicht“. Und wie Sie es vermutlich schon geahnt haben: Wir lehnen den Antrag der FDP ab.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU)
Vielen Dank, Susanne Mittag. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Ulla Jelpke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7505134 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 213 |
Tagesordnungspunkt | Perspektive für Grenzkontrollen |