26.02.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 213 / Tagesordnungspunkt 25

Helge LindhSPD - Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft

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Uff!

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich muss mich erst mal von der Rede eben erholen. Das gelingt mir aber, wie immer. – Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Ich bin, ohne mit der Firma irgendwie verbunden zu sein, ein Abhängiger von Cola Zero und bekenne mich dazu. Aber nach der heutigen Information bin ich ein noch größerer Cola-Fan; denn diese Coca-Cola-Schulung ist wie für Sie gemacht.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Gut, dass Sie sie beschrieben haben. Herzlichen Glückwunsch an Coca-Cola! Eine weise Entscheidung: eine Weiterbildung für die AfD.

Zum Zweiten muss ich angesichts Ihrer Rede feststellen, dass das Deutsche Kaiserreich sich keine bessere Legitimation der Kolonialpolitik hätte vorstellen können als Ihre.

(Beifall des Abg. René Röspel [SPD])

Also ex post ist es Ihnen gelungen, eine mustergültige Grundlegung der deutschen Kolonialpolitik zu liefern. Das muss man auch erst mal schaffen.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Was für ein Blödsinn! Auf die Idee muss man erst mal kommen!)

Dann haben Sie ernsthaft gesagt, Sie leugneten ja nicht, dass es diese Verbrechen gegeben hätte, aber man müsse Rechtssicherheit für die deutschen Museen schaffen. – Ich hoffe, Sie haben auch über die Folgen nachgedacht. Wenn also infolge von Verbrechen Artefakte, menschliche Überreste usw. in Museen sind, ist die Rechtssicherheit für das deutsche Museum wichtiger als die Form der Wiedergutmachung,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Beides! Beides!)

die ja nie eine Wiedergutmachung sein kann. Das ist Rechtsverständnis und Moral à la AfD. Herzlichen Glückwunsch!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Was ist Kolonialismus aber tatsächlich? Zum einen das, was die AfD soeben vorgeführt hat. Das zeigt auch, dass dieses Denken bis heute weiterwirkt.

Was Kolonialismus im Kern ist, zeigt die Geschichte von Sussy Dakaro. Auf einem Friedhof in Wuppertal-Sonnborn gibt es einen Gedenkstein, gewidmet ebenjener Sussy Dakaro, die mit 17 Jahren als gebürtige First Australian im Wuppertaler Zoo an Tuberkulose gestorben ist. Sie war Teil einer Völkerschau und wurde den Besuchern des Zoos vorgeführt, nachdem sie selbiges auch in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten erlebt hatte. Ihr Name war nicht Sussy Dakaro; er wurde ihr von der Dominanzgesellschaft und denjenigen, die sie da vorführten, verliehen. Wir wissen bis heute nicht, wie sie wirklich hieß. Wir wissen nicht mal, ob sich an der Stelle, an der heute dieser Gedenkstein steht, tatsächlich ihre Gebeine befinden. Wir können bis zum heutigen Tag nicht sagen, ob diese repatriiert werden können, wie es bei ihrem ebenfalls an Krankheit verstorbenen Mann im Jahr 1993 möglich war.

Dieses Beispiel zeigt, denke ich, als ganz einfaches Beispiel, worum es wirklich geht: um einen Menschen, dem die Identität genommen wurde, dem der Name genommen wurde, der gezwungen wurde, in einem fremden Land zu leben, der dort wie ein Tier vorgeführt wurde, dem auch noch Knochen durch die Nase oder die Ohren gezogen wurden, um damit ein Bild des Fremden zu kreieren, an dem sich dann die deutschen Besucherinnen und Besucher belustigten. Das Ganze lief dann unter dem Titel – ich zitiere –: „Bumerang werfende australische Kannibalen“. Darüber reden wir beim Thema Kolonialismus, und ich denke, daraus wird auch der Auftrag, dem wir gerecht werden müssen, deutlich.

Wie gehen wir damit um? Ein Beispiel und ein wichtiger Schritt scheint mir zu sein – das war jetzt sichtbar auf einer Konferenz „Shared History“; dafür danke ich auch ausdrücklich Staatsministerin Müntefering –, dass wir konsequent die Beteiligung und die Rolle deutscher Behörden aufklären, und das nicht einfach selbst, sondern von Beginn an zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Globalen Südens, und das in Stipendienprogramme umsetzen. Das ist ganz konkreter, verantwortungsbewusster und notwendiger Umgang.

Darüber hinaus scheint mir wichtig zu sein, dass wir – auch wieder kooperativ – Schulbücher erstellen, die deutlich machen, was wirklich geschah, die dieser Sussy Dakaro, die gar nicht Sussy Dakaro hieß, und vielen, vielen anderen Raum und Platz geben und Erinnerung schaffen.

Wir machen es durch Kooperationsprojekte, dadurch – und das ist erst ein Anfang –, dass beispielsweise das Goethe-Institut und die Gerda Henkel Stiftung entsprechende Projekte starten, und dies immer wieder nach dem Grundsatz der Zusammenarbeit; denn Täter und Opfer sind schrecklicherweise geeint, aber – das ist auch unser Ausgangspunkt – in einer shared History, in einer geteilten Geschichte.

Die einzige Antwort aus meiner Sicht, aus unserer Sicht kann sein, dass wir als Deutsche hier tatsächlich Kontrolle abgeben, dass wir diesen Kontrollverlust bewusst eingehen, dass wir jetzt nicht noch im Versuch der Aufarbeitung sagen, wie die Rolle ist,

(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Kappert-Gonther [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

und dass wir nicht behaupten, das Deutsche Museum und dessen Bedingungen oder die Art und Weise, wie wir uns vorstellen, dass mit Artefakten und Gebeinen umgegangen werden muss, seien das Entscheidende. Nein, das ist nicht unser Recht; das ist die Rolle derjenigen aus den Herkunftsgesellschaften, derjenigen, die hier in der Diaspora leben. Das ist aus meiner Sicht das Entscheidende.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Es geht um Fragen der Rückgabe, der Transparenz, der Digitalisierung, aber auch das bitte immer im Schulterschluss mit den Betroffenen; denn es gibt zum Beispiel australische Bevölkerungsgruppen, die nicht wollen, dass Artefakte, dass andere Objekte, auch Zoologika, vorgeführt werden. Also muss man sich auch da immer rückkoppeln.

Zum Zweiten geht es darum – das muss man aussprechen; wie wichtig das ist, hat Herr Jongen gerade vorgeführt –, dass wir auch über Rassismus und die tiefe Verknüpfung mit dem Kolonialismus sprechen und das nicht als separate Debatten begreifen. Also gehören in den Mittelpunkt unserer Debatte auch „Black Lives Matter“ und die ganze Aufarbeitung des Rassismus bis in die heutigen Strukturen hinein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Das Dritte, was wir brauchen, ist der Prozess; ich deutete es eben schon an. Es reicht nicht, dass wir die Debatte in Feuilletons führen; es reicht auch nicht, das hier über Anträge zu machen. Es ist dringend notwendig, dass wir das operativ umsetzen. Aber wir brauchen auch neue Räume der Begegnung, in denen diese Wunden offen angesprochen werden. Es nützt nichts, die Schmerzen zu betäuben: Die Schmerzen müssen sichtbar gemacht werden.

Gerade in solchen Räumen – und wir haben alle Möglichkeiten, über Bürgerbeteiligung, über Formen der Foren bis in die Städte hinein – muss diese Geschichte sichtbar gemacht werden. Und da müssen diejenigen, die diesen Schmerz empfinden und die heutzutage genau diesen Schmerz von Sussy Dakaro spüren – die nicht irgendwie, wie Sie behaupten, –

Herr Kollege.

– verquaste Ideen der Identitätspolitik haben, sondern die daran leiden –, die Räume bekommen, ihr Schicksal, ihr Empfinden deutlich zu machen, –

Herr Kollege Lindh.

– und wir müssen zuhören. Das ist unser Auftrag, nichts anderes.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der AfD: Ein selbst erteilter Auftrag!)

Vielen Dank, Helge Lindh. – Nächster Redner: für die FDP-Fraktion Hartmut Ebbing.

(Beifall bei der FDP)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7505144
Wahlperiode 19
Sitzung 213
Tagesordnungspunkt Aufarbeitung der deutschen Kolonialherrschaft
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