Nina ScheerSPD - 10 Jahre nach Fukushima
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn jetzt hier im Raum steht, dass die Erwähnung des atomaren GAU, des Unfalls von Fukushima, und die Fokussierung darauf eine Verharmlosung gegenüber den anderen Schäden darstellt, gegenüber den Menschenopfern und den Tsunamischäden, die zu verzeichnen sind, dann muss ich sagen: Das ist einfach falsch. Diese Behauptung ist unwürdig gegenüber all den Opfern der Komplettkatastrophe.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Damit wollen Sie wieder nur vertuschen und die Folgeschäden der Atomenergie verharmlosen.
(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])
Wer vor ein paar Tagen den sehr aufschlussreichen Bericht im Ersten Deutschen Fernsehen gesehen hat, der noch mal daran erinnerte, was vor zehn Jahren passiert ist, der hat gesehen, dass dort auch der „Tagesthemen“-Reporter wiedergegeben wurde, der damals aus Tokio berichtet hat. Man hat ja zuerst auf die Folgen des Tsunamis geschaut. Aber in dem Moment, in dem klar war, was das mit den Atomreaktoren macht, lag der Fokus angesichts dieser Dramatik tatsächlich auf dieser Situation. Deswegen: Uns hier im Haus insgesamt zu unterstellen, dass man den Opfern nicht gerecht wird, ist einfach zynisch, und es lenkt wieder nur ab von den Fragen, die heute zu zehn Jahren Fukushima in der Tat anstehen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])
Es ist schon anderweitig erwähnt worden: Es gibt viele Opfer, sowohl tsunamibedingt als auch aufgrund der Reaktorkatastrophe. Es gibt – –
(Zuruf des Abg. Karsten Hilse [AfD] – Gegenrufe von der SPD)
Frau Kollegin Dr. Scheer, im Deutschen Bundestag ist es üblich, dass man auch Zwischenrufe macht. Wenn Sie das stört – –
Ja. Man hat nur irgendwie das Gefühl, dass man noch nicht mal Luft holen kann, ohne Widerworte zu kriegen. – Also gut, ich versuche es noch mal.
Frau Kollegin, das Schicksal teilen Sie mit vielen Abgeordneten der AfD.
Okay, das stimmt. Das ist das Schicksal der Gemeinschaft hier.
(Beifall der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich wollte auf die Situation im Zusammenhang mit den Krebsraten zurückkommen, die massiv steigen. Da gibt es auch jüngste Berichte von Ärzten vor Ort, denen Sie ja vielleicht mal Glauben schenken können, die davon sprechen, dass die Krebsrate von Kindern, die unter Schilddrüsenkrebs leiden, um das 20- bis 50-Fache nach oben gegangen ist.
(Dr. Rainer Kraft [AfD]: Laden Sie die Experten mal ein!)
Ich habe jetzt keine Zeit, weiter darüber zu sprechen, weil ich noch viele andere Punkte anführen möchte. Aber allein schon aus Respekt vor den Opfern gebührt es sich doch, dass Sie nicht ständig durch Zwischenrufe diese schreckliche Dramatik relativieren.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ich will als zweiten Punkt aber auf die Atomenergiesituation weltweit eingehen. Es muss Sie doch aufrütteln, dass die Gesamtinvestitionen in Atomenergie in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen sind, weil man einfach erkannt hat: Das ist mit Blick auf die Risiken, mit Blick auf die gesamtgesellschaftlichen Kosten einfach nicht mehr zu rechtfertigen; es ist nicht mehr opportun. – Zurzeit werden weltweit Investitionen in Atomenergie im Umfang von 31 Milliarden US-Dollar getätigt. Dem stehen aber Investitionen von 138 Milliarden US-Dollar in Windenergie und 131 Milliarden US-Dollar in Solarenergie gegenüber. Ich sage das einfach nur, um mal die Größenordnungen in den Raum zu stellen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die Anteile bei den Forschungsausgaben spiegeln das aber nicht unbedingt wider, und das muss uns zu denken geben. Weltweit entfallen immer noch 22 Prozent der Forschungsausgaben auf die Atomenergie, aber nur 15 Prozent auf erneuerbare Energien und 8 Prozent auf fossile Energien. Auch wir in Deutschland geben angesichts der Verflechtung mit ITER und anderem immer noch jährlich 138 Millionen Euro in diesen Bereich. Man muss sehen, dass die Beteiligung an ITER und weiteren Atomprojekten die Hälfte aller Forschungsausgaben der Europäischen Union ausmacht.
(Zuruf des Abg. Karsten Hilse [AfD])
Das ist etwas, was heutzutage nicht mehr hinnehmbar ist.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es spiegelt auch nicht den Anteil an den Investitionen wider, die weltweit getätigt werden. Hier muss eine Wende einsetzen. Hier muss auch eine Überarbeitung des Euratom-Vertrages her, weil das nicht mehr zeitgemäß ist und eine falsche Ausstrahlung auf Investitionen und die Forschung hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Im Übrigen kann auch nicht weiter verharmlost werden, welch dramatisches Bedrohungspotenzial für terroristische Angriffe vom Umgang mit Atomkraftwerken ausgeht. Es muss uns auch zu denken geben, dass die Laufzeit von Atomkraftwerken, weil es unwirtschaftlich ist, in neue zu investieren, immer länger wird und inzwischen schon bei durchschnittlich 35 Jahren liegt. Je älter die Atomkraftwerke werden, desto anfälliger sind sie, und desto größer ist die Bedrohung, die von ihnen ausgeht. Insoweit ist es richtig, dass wir es uns in der Koalition zur Aufgabe gemacht haben, sich in einer der noch mindestens zwei in dieser Legislaturperiode anstehenden Atomgesetznovellen der Frage zu widmen, wie es um den Schutz vor terroristischen Angriffen bestellt ist.
Als letzten Punkt – ich habe noch eine halbe Minute – möchte ich auf die Verflechtung hinweisen, die zwischen Atomenergienutzung und Atomwaffen besteht.
(Stephan Protschka [AfD]: Sie müssen nicht alles ausnutzen!)
Sie besteht definitiv, und das wird viel zu selten thematisiert. Der Ausgangspunkt ist: Zur Entwicklung der Atombombe wurden während des Zweiten Weltkriegs unter Eisenhower im Zuge des Manhattan-Projekts umgerechnet 50 Milliarden US-Dollar investiert.
(Zuruf von der AfD: Sie haben keine Ahnung!)
Mehr als 100 000 Menschen waren damals beschäftigt. Das war die Stunde null der Atomenergienutzung; das zu verleugnen, wäre falsch. Das bedeutet auch, dass die damals angelegte Verflechtung uns heute vor die Aufgabe stellt, immer beides zu denken: Ohne Atomenergiebeendigung wird es keine Beendigung der Atomwaffennutzung geben, und ohne Ausstieg aus den Atomwaffen wird es keinen gelingenden Atomenergieausstieg geben.
(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Dieser letzte Punkt in dieser Debatte soll verdeutlichen, welch weitreichende Aufgabe das für uns darstellt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD – Stephan Protschka [AfD]: Das hat mit dem Manhattan-Projekt noch nichts zu tun gehabt! -Weiterer Zuruf von der AfD: Keine Ahnung! – Weitere Zurufe von der AfD – Gegenruf des Abg. Carsten Träger [SPD]: Was seid denn ihr für Stammtischproleten! – Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für Proleten!)
Das Wort hat die Kollegin Judith Skudelny für die FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Source | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
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Electoral Period | 19 |
Session | 215 |
Agenda Item | 10 Jahre nach Fukushima |