Gabriela HeinrichSPD - Aktuelle Stunde – Deutsche und europäische Türkeipolitik
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor zehn Jahren brachte der Europarat ein wegweisendes Abkommen auf den Weg. Es ist das erste verbindliche Instrument, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern, um Opfer zu schützen und die Straflosigkeit der Täter zu beenden – kein Garant, aber ein unverzichtbares Instrument.
Als erstes Land hat die Türkei diese sogenannte Istanbul-Konvention 2012 ratifiziert. Jetzt ist es gerade die Türkei, die austreten will. Damit verlieren 42 Millionen Frauen in der Türkei ein wichtiges Instrument im Kampf um Gleichberechtigung. Und das gerade jetzt: Allein im vergangenen Jahr wurden in der Türkei mindestens 300 Frauen ermordet, nur weil sie Frauen waren; über die Dunkelziffer will ich gar nicht nachdenken.
Und gerade jetzt will sich Präsident Erdogan aus der Verantwortung ziehen. Seine Begründung für den Austritt ist der blanke Hohn: Er wolle die Normalisierung von Homosexualität unterbinden, und durch die Istanbul-Konvention sei ein Verstoß gegen traditionelle, soziale und familiäre Werte zu befürchten. Wenn er so etwas sagt, muss der türkische Präsident sich schon fragen lassen, welche Werte das denn bitte sein sollen. Hass und Gewalt?
(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Erbakans Werte!)
Ich sage hier in aller Deutlichkeit: Wer so ein Abkommen ablehnt, kämpft nicht für traditionelle Familienwerte. Wer so etwas ablehnt, stellt grundlegende Menschenrechte infrage.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Heinrich [Chemnitz] [CDU/CSU])
Präsident Erdogan eröffnet Spielraum für Gewalt und baut Schutzräume für Frauen ab. Was bedeutet das anderes, als das blanke Patriarchat durch ein Deckmäntelchen traditioneller Familienpolitik wieder salonfähig zu machen? Der Präsident sendet ein fatales Signal an alle Frauen im eigenen Land und letztlich an die gesamte türkische Gesellschaft: Frauen sind in der Türkei weniger wert. – Erst am Internationalen Frauentag wurde breit davor gewarnt, dass errungene Frauenrechte wieder zerschlagen werden.
Noch etwas: Länder wie Ungarn, Bulgarien und Tschechien haben die Istanbul-Konvention noch nicht ratifiziert. Sie sollten das jetzt umso schneller tun. Aber noch verwerflicher, als sie nicht zu ratifizieren, ist es, diese Errungenschaft einfach wieder zurückzunehmen.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Liebe Kolleginnen und Kollegen, unter Präsident Erdogan stehen nicht nur die Frauenrechte unter Druck, sondern noch viel mehr Menschenrechte. Der zweitgrößten Oppositionspartei, der HDP, droht das Verbot, weil sie Erdogan nicht in den Kram passt. Journalistinnen und Journalisten und Oppositionelle werden willkürlich inhaftiert. Wir mussten in den letzten Jahren auch zur Kenntnis nehmen, dass selbst ein deutscher Pass nicht vor Haft oder vor Hausarrest in der Türkei schützt.
Die türkische Regierung schränkt grundlegende Rechte ein. Aber in einem demokratischen und rechtsstaatlichen Land ist es eben gerade nicht möglich, Oppositionsparteien zu verbieten und Hunderte Politikerinnen und Politiker mit einem Berufsverbot zu belegen. Im Umkehrschluss heißt das: Die Türkei ist schon lange nicht mehr rechtsstaatlich und demokratisch. Und deswegen bin ich auch der Meinung, dass es jetzt aus Berlin, aus Brüssel und vom Europarat Ansagen geben muss. Ich hoffe sehr, dass sich der Europarat wirksam einmischt und die Menschenrechtsverletzungen dort klar benannt werden. Und am Ende, wenn das alles nichts bringt und Präsident Erdogan weiterhin die Urteile des Menschenrechtsgerichtshofs ignoriert, müssen die neuen Sanktionsmöglichkeiten starten und muss die Türkei vielleicht sogar ausgeschlossen werden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Außenminister Maas hat bereits eine deutliche Botschaft nach Istanbul geschickt. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die türkische Regierung auf, damit aufzuhören, rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien mit Füßen zu treten. Der türkischen Opposition muss der Raum gegeben werden, sich im Rahmen des demokratischen Prozesses einbringen zu können. Und den türkischen Frauen muss die Möglichkeit garantiert werden, frei von häuslicher und sexualisierter Gewalt leben zu können – unter dem Schutz der Istanbul-Konvention.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vielen Dank, Frau Kollegin Heinrich. – Nächste Rednerin ist die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, die Kollegin Gyde Jensen, FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7510072 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 217 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde – Deutsche und europäische Türkeipolitik |