Gyde JensenFDP - Aktuelle Stunde – Deutsche und europäische Türkeipolitik
Herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir Freie Demokraten wollen eine enge Beziehung zur Türkei. Wir wollen eine freundschaftliche Beziehung zur Türkei, eine gute Beziehung. Und deshalb bedauern wir zutiefst, was aus dieser Beziehung unter Präsident Erdogan in den vergangenen Jahren geworden ist.
Eine gute Beziehung baut auf Vertrauen auf. Und Vertrauen wiederum baut darauf auf, dass man Dinge miteinander vereinbart, an die man sich im Anschluss auch hält. Gute Beziehungen, Herr Erdogan, die kann man nicht erpressen, indem man im Mittelmeer mit Säbeln rasselt oder die verwundbarsten Mitglieder einer Weltgemeinschaft, die Geflüchteten, als Faustpfand einsetzt. Gute Beziehungen, Herr Erdogan, die erhält man nicht durch Täuschung und Augenwischerei – eine Täuschung wie am 2. März, als der türkische Präsident seinen sogenannten Aktionsplan für Menschenrechte vorstellte, sicher auch mit einem Seitenblick auf seine Charmeoffensive an die EU und das Angebot eines Neustarts der EU-Beziehungen. Das ist Augenwischerei, weil Erdogan seit der Ankündigung dieses Aktionsplans für Menschenrechte keinen einzigen politischen Gefangenen freigelassen hat, kein einziges Urteil des EGMR umgesetzt hat – nicht dass er das vorher wirklich häufig getan hätte –, einem der profiliertesten Menschenrechtspolitiker des Landes, Ömer Faruk Gergerlioglu, das Mandat und damit die Immunität entzogen hat und ihn zeitweise sogar inhaftieren ließ sowie juristische Schritte einleiten ließ, um die Oppositionspartei HDP zu verbieten.
Der traurige Höhepunkt – darüber haben wir hier in dieser Debatte schon gesprochen – folgte dann am Wochenende mit dem Austritt aus der Istanbul-Konvention. Per Präsidialdekret wurden die Frauen in der Türkei zu Bürgerinnen zweiter Klasse degradiert. Dieser Schritt ist natürlich nicht nur ein schwerer Schlag gegen die Frauenrechte in der Türkei, es ist vor allen Dingen ein Austritt mit Symbolkraft; denn am 11. Mai 2011 wurde diese Konvention verabschiedet, und zwar in Istanbul als symbolischem Ort nicht nur für die historischen Fortschritte im Menschenrechtsschutz, sondern auch für die Wirkmacht unserer multilateralen Ordnung.
Außenminister Maas bezeichnete diesen Austritt aus der Konvention am Montag am Rande des EU-Außenministertreffens ganz lapidar als – ich zitiere – „falsches Zeichen“. Bereits in dieser Antwort, meine Damen und Herren, zeigt sich die Türkei-Politik der Bundesregierung in ihrer ganzen Problematik: Kritik am türkischen Präsidenten ist für Sie eine reine politische Pflichterfüllung, die mit einer Phrase abgearbeitet wird.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Jürgen Braun [AfD] und Heike Hänsel [DIE LINKE])
Vor allen Dingen in Zeiten, in denen die Bundesrepublik den Vorsitz im Ministerkomitee des Europarates hat, Herr Minister – er ist nicht anwesend; deswegen schaue ich jetzt Herrn Roth an –, hätten Sie eine Verantwortung gehabt, viel deutlicher zu werden; denn zwei Drittel der Zeit im Ministerkomitee sind bereits um.
Der Journalist Deniz Yücel schrieb am 22. März für „Die Welt“ – ich zitiere –:
Die Türkei ist dabei, sich von einer korrupten Autokratie in eine islamistisch-nationalistisch gefärbte (und korrupte) Diktatur zu verwandeln.
Dieser Prozess, meine Damen und Herren, ist seit vielen Jahren erkennbar, und wir haben derzeit leider keinen Anlass zur Hoffnung, dass sich dieser Prozess wieder umkehren wird. Deshalb ist es auch an der Zeit, ein kleines bisschen mehr Ehrlichkeit in der Türkei-Politik walten zu lassen. Eine Türkei, die auf dem Weg in eine Diktatur ist, kann keine EU-Beitrittskandidatin sein, meine Damen und Herren von der Bundesregierung.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der AfD und der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE])
Wir Freie Demokraten fordern deshalb schon sehr lange, die Beziehungen zur Türkei in einem Grundlagenvertrag neu zu regeln. Der Fokus unserer Türkei-Politik muss sich ein Stück weit verschieben. Die Zivilgesellschaft in der Türkei muss unsere neue Partnerin sein. Deswegen brauchen wir gerade jetzt einen Ausbau von Austauschprogrammen mit der Türkei für Studentinnen und Studenten und junge Berufstätige. Wir müssen gerade jetzt Medienprojekte unterstützen, die unabhängig über die türkische Politik auf Türkisch berichten. Gerade jetzt müssen wir im Europarat alle uns zur Verfügung stehenden Mechanismen nutzen, damit EGMR-Urteile umgesetzt werden. Und wenn Eskalationen seitens Erdogan Konsequenzen der EU und der Bundesregierung notwendig machen, dann müssen dies Konsequenzen sein, die nicht die türkische Zivilgesellschaft treffen, sondern den Präsidenten selbst und diejenigen, die das System Erdogan stützen. Und schließlich – das muss uns allen klar sein, meine Damen und Herren – brauchen wir ein menschenrechtskonformes, ein funktionierendes Asyl- und Migrationssystem in der EU; denn das ist die entscheidende Grundlage dafür, dass die EU sich nicht länger erpressen lassen muss.
(Beifall bei der FDP)
Frau Bundeskanzlerin – sie hört diese Debatte hoffentlich irgendwie –, bitte nehmen Sie die Gedanken aus dieser Debatte mit zum EU-Gipfel morgen und besprechen Sie dort genau die nächsten Schritte. Enttäuschen Sie die Millionen Türkinnen und Türken nicht, die ihre Zukunft immer noch in der EU oder zumindest in enger Verbundenheit mit der EU sehen. Denn unsere Solidarität gilt den Journalistinnen und Journalisten, den Politikern, den Menschenrechtsverteidigern, all denjenigen wie Osman Kavala, die unrechtmäßig inhaftiert sind.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Sie gilt den Studentinnen und Studenten, die an der Bogazici-Universität für Wissenschaftsfreiheit kämpfen, und natürlich all den Türkinnen, die gerade dafür kämpfen, dass sie eben nicht Bürgerinnen zweiter Klasse in der Türkei werden.
Frau Kollegin, bitte jetzt!
Genau das muss auch im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU besser ablesbar sein.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP)
Vielen Dank, Frau Kollegin Jensen. Auch für die Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses gilt die Fünf-Minuten-Regel bei Aktuellen Stunden. – Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7510073 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 217 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde – Deutsche und europäische Türkeipolitik |