24.03.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 217 / Zusatzpunkt 1

Frank SchwabeSPD - Aktuelle Stunde – Deutsche und europäische Türkeipolitik

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Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren! Das, was wir im Moment in der Türkei erleben, hat innenpolitische Gründe und nichts anderes. Ich glaube, man muss klar analysieren: Es ist der Versuch des Machterhalts, weil nämlich Machtverlust droht. Man muss sich nur die Umfragen angucken, dann weiß man, wie es eigentlich um Erdogan steht. Deswegen gibt es den Versuch, die Lage zu eskalieren. Bei allem außenpolitischen Bemühen und bei aller Wertschätzung dessen, was die Türkei auch leistet, zum Beispiel in der Frage von Geflüchteten, ist klar: Es darf keinen menschenrechtlichen Kredit geben.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Opfer der aktuellen innenpolitischen Lage und des Eskalierens durch Präsident Erdogan sind Studentinnen und Studenten, sind Herr Kavala und Herr Demirtas, die eben nicht aus dem Gefängnis entlassen werden, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das so bestimmt hat, sind die HDP, aber auch die CHP als Oppositionsparteien und sind insbesondere auch die Frauen.

Übrigens, das muss man ja auch mal sagen: Da gibt es eine absurde Koalition. Die Frage von Menschenrechten ist eben keine von Ost oder West und auch keine von Religionen. Vielmehr gibt es eine absurde Koalition aus extrem konservativen Muslimen in der Türkei und zum Beispiel extrem konservativen Christen in Polen. Mich würde mal interessieren, wo die AfD in dieser Koalition eigentlich wäre.

(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mittendrin!)

Das sind nämlich diejenigen, die Frauenrechte missachten, die am Ende gegen die Istanbul-Konvention kämpfen. In Polen wird gerade eine Alternative dazu vorbereitet. Das ist das Spiel, das dort entsprechend betrieben wird.

Womit Herr Erdogan, glaube ich, nicht gerechnet hat, ist der große internationale Protest, im Übrigen auch aus Deutschland. Deutschland hat sich in der Präsidentschaft des Europarats gemeinsam mit anderen Institutionen des Europarats am Wochenende klar positioniert, wie auch Herr Biden, der Präsident der USA, die Vereinten Nationen usw. Das heißt, wir kriegen noch eine große Debatte über die Istanbul-Konvention, und das ist gut so.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Andreas Nick [CDU/CSU])

Bei den Attacken auf die HDP geht es eben nicht darum, dass sich die HDP in den letzten Jahren radikalisiert hätte; das Gegenteil ist der Fall. Es geht darum, dass die HDP eine neue Strategie eingeschlagen hat und in den Großstädten der Türkei Unterstützung gefunden hat und deswegen dauerhaft möglicherweise über 10 Prozent der Wählerinnen- und Wählerstimmen bekommt. Das ist die Gefahr, die Erdogan droht. Deswegen gibt es jetzt die Angriffe auf die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei: Mittlerweile sind 10 000 Mitglieder inhaftiert, 50 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wurden abgesetzt. Und jetzt soll eben der finale Schlag gegen die HDP erfolgen: nicht nur ein Verbot der Partei, sondern auch ein Verbot für knapp 700 Mitglieder, für fünf Jahre politisch tätig zu sein. Das ist eigentlich nur vergleichbar mit dem Militärputsch 1980, wo Menschen auch mit einem solchen Politikverbot belegt worden sind.

Wie wenig unabhängig die türkische Justiz ist, zeigt sich daran, wie mit dem Thema der Aufhebung der Immunität von Abgeordneten gespielt wird. Es sind mittlerweile deutlich mehr als 1 000 Verfahren gegen Abgeordnete im türkischen Parlament auf dem Weg. Davon betreffen nur 15 Verfahren die AKP und die MHP – nur 15, weil die wahrscheinlich alle so wenig kriminell sind –; aber über 200 die CHP und über 900 die HDP.

(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Was macht denn Ihre Regierung dagegen? Die Fakten kennen wir alle!)

Der aktuelle Fall ist genannt worden: Ömer Faruk Gergerlioglu, der als Menschenrechtler und als Abgeordneter anerkannt ist, soll wegen eines Tweets für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis.

Zum Europarat. Ich glaube, wir müssen noch mal miteinander darüber reden, was der Europarat ist und was er leisten kann. Er ist etwas anderes als die Europäische Union. Die Europäische Union hat nur die Möglichkeit, Sanktionsinstrumentarien zu nutzen; die sind mittlerweile geschärft worden und müssen auch genutzt werden. Der Europarat ist aber etwas anderes. Der Europarat hat die Möglichkeit, in Ländern zu agieren, weil nämlich Staaten – auch die Türkei – Souveränitätsrechte abgegeben haben. Sie haben sich den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte unterworfen. Sie lassen zu, dass zum Beispiel das Antifolterkomitee Monitoringmissionen in einem Land durchführen kann. Deswegen bitte ich alle, noch mal darüber nachzudenken und nicht zu leichtfertig mit der Frage der Mitgliedschaft im Europarat zu spielen; denn der Europarat ist nicht für die Staaten und nicht für die Präsidenten gemacht, sondern für die Menschen in den Staaten. Und in dem Moment, wo ein Land nicht mehr im Europarat ist – man kann das nur einmal tun –, ist dann eben auch Schluss mit der Möglichkeit der Verteidigung der Menschenrechte.

Aber eines will ich am Ende noch sagen – meine Zeit ist gleich abgelaufen –:

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nur deine Redezeit, Frank!)

Das heißt nicht, dass es keine roten Linien im Europarat gibt. Eine dieser roten Linien ist hier in der Tat die Umsetzung von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Und wenn die Türkei nicht in den nächsten Wochen, würde ich sagen, Herrn Kavala und anschließend Herrn Demirtas freilässt, dann ist diese rote Linie überschritten, dann wird Artikel 46 Absatz 4 des Vertrages entsprechend Anwendung finden müssen.

(Cem Özdemir [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da nehmen wir euch beim Wort!)

Und das kann dann dazu führen, dass die Türkei entweder das umsetzt oder am Ende eben nicht mehr Mitglied des Europarates sein kann.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Frank Schwabe. – Nächster Redner: für Bündnis 90/Die Grünen Cem Özdemir.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7510077
Wahlperiode 19
Sitzung 217
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde – Deutsche und europäische Türkeipolitik
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