Christian LindnerFDP - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Bundeskanzlerin, Sie haben am gestrigen Tag die Kraft und die Größe gehabt, eine Entscheidung zu revidieren. Dafür ist Ihnen Respekt gezollt worden. Die Rücknahme der Entscheidung zur Osterruhe war richtig wegen der Fragen der technisch-rechtlichen Umsetzung, allerdings auch wegen der mangelnden Akzeptanz dieser Maßnahme in der Bevölkerung. Die Krisenpolitik darf sich nicht von der Lebenswirklichkeit der Menschen entfernen. Wir wissen: Wenn man eine Schraube immer weiter anzieht, dann kommt nach fest ganz locker. Wir sind darauf angewiesen, dass die Menschen die Regeln verstehen, sie für logisch und verhältnismäßig halten und sie deshalb auch aus eigener Entscheidung befolgen. Bei der Frage der Osterruhe hat sich vor allen Dingen aber auch die Frage der epidemiologischen Notwendigkeit gestellt, ob es tatsächlich eine wirksame Entscheidung ist. Da haben Sie selbst Zweifel angemeldet, und deshalb war es richtig, die Entscheidung für die Osterruhe zurückzunehmen. Freiheitseingriffe sollte es nur dort geben, wo sie wirklich notwendig sind. Bei allen gesundheitlichen Risiken müssen wir die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemiepolitik auch stärker berücksichtigen.
(Beifall bei der FDP)
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben für die Entscheidung zur Osterruhe die Verantwortung auf sich genommen – das ist honorig, aber das bringt uns in der Sache nicht weiter. Auch andere tragen dafür Mitverantwortung. Auch die Persönlichkeit mit den größten Gaben kann nicht auf Dauer alleine die Last der Verantwortung tragen. Das müssen andere mehr machen; nicht nur die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Ich höre in den letzten Tagen, welche Kritik an Ihnen aus den Reihen der Unionsfraktion – auch öffentlich – geäußert worden ist. Wenn ich in Erinnerung rufe, dass Ihr Koalitionspartner SPD bisweilen so auftritt, als habe er mit der Regierung gar nichts mehr zu tun, dann stellt sich auch hier die Frage der gemeinsam getragenen Verantwortung. Übrigens war so mein gestriger Hinweis auf die Option der Vertrauensfrage zu verstehen. Sie erlaubt ja eine neue Konzeptualisierung von Politik und ist die Möglichkeit, wieder Disziplin herzustellen. Ich habe keinen Zweifel, dass sich Ihre Koalition hinter Ihnen versammeln würde; die Grünen haben Sie sowieso auf Ihrer Seite.
(Heiterkeit und Beifall bei der FDP)
Die Entscheidung zur Osterruhe und die Debatte darüber werfen indessen auch ein Licht auf das Verfahren des Krisenmanagements, ja, vielleicht muss man sogar sagen, auf die Staatspraxis der vergangenen Jahre: Showdown-Situationen in Koalitionsausschüssen mit nächtlichen Sitzungen und spontanen Entscheidungen. Dieser Entscheidungsmodus, Kollege Mützenich, führt auch dazu, dass zum Beispiel Landesregierungen und die sie tragenden Koalitionen gar nicht einbezogen werden können. Ihre Ministerpräsidentin Malu Dreyer zum Beispiel hat bei der letzten Ministerpräsidentenkonferenz die Unterrichtung des Ministerrates nachts, wo Grüne und FDP informiert werden sollten, abgesagt. Wenn wir ein anderes Verfahren wählen – ich komme gleich darauf zurück –, dann wäre das besser möglich. Das Verfahren, das bislang gewählt wird, führt systematisch zu falschen Abwägungen. Ich rufe aus der jüngsten Vergangenheit beispielsweise die plötzlich erfundene Senkung der Mehrwertsteuer in Erinnerung, die in der Sache nichts gebracht hat und die heute auch niemand vermisst. Es ist fraglich, ob die erfahrene Weltpolitikerin Merkel in den vergangenen Jahren nicht zu viel von der internationalen Gipfeldiplomatie in unsere nationalen Kontexte gebracht hat, als der Sache hier hilft.
(Beifall bei der FDP)
Es ist jetzt deshalb, meine Damen und Herren, Anlass und Gelegenheit für einen doppelten Neustart der Pandemiepolitik; ein Neustart zunächst im Verfahren. Die Evolution der Regierungsformen hat eine Antwort gefunden auf die zunehmende Komplexität der Entscheidungsgegenstände von Politik. Die Antwort heißt: parlamentarische Demokratie.
(Beifall bei der FDP)
Wir sollten wieder mehr parlamentarische Demokratie in unserer Republik praktizieren. Konkret schlage ich vor, Frau Bundeskanzlerin, dass Sie vor jeder Ministerpräsidentenkonferenz eine Regierungserklärung in diesem Haus abgeben, um die Grundlinien Ihrer Pandemiepolitik zu erläutern und dann in diesem Parlament eine Debatte darüber zu ermöglichen.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Soll das in den Landesparlamenten dann auch stattfinden? – Gegenruf des Abg. Dr. Marco Buschmann [FDP]: Das findet schon statt, zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen!)
Das führt systematisch dazu, dass Entscheidungen kritisch abgeklopft werden. Ich beziehe das jetzt nicht nur auf die Fraktion der Freien Demokraten, auch der Kollege Fraktionsvorsitzende der Union, Herr Brinkhaus, hat in den Debatten regelmäßig Vorschläge unterbreitet, die zu oft aber folgenlos geblieben sind. Debatte ist ein Instrument der Qualitätssicherung hier im Parlament, und deshalb sollten wir das wieder systematisch nutzen.
(Beifall bei der FDP)
Bei dieser Gelegenheit will ich sagen: Dankenswerterweise reden wir jetzt über Reiseverbote. Es ist gestern in den Raum gestellt worden, dass Sie sie prüfen. Jetzt haben wir einmal die Gelegenheit, bevor eine solche Entscheidung getroffen worden ist, hier zu sprechen. Ich sage Ihnen die Haltung der FDP: Ich rate Ihnen von pauschalen Reiseverboten ab. Setzen Sie auf Tests. Reiseverbote in Deutschland sind nicht nur historisch belegt, sondern entsprechen darüber hinaus auch nicht der Lebenswirklichkeit vieler Familien. Es gibt mildere Mittel, um das Ziel der Pandemiebekämpfung zu erreichen.
(Beifall bei der FDP)
Auf der anderen Seite, Frau Merkel: ein Neustart in der Strategie. Bislang wurde immer auf das Prinzip gesetzt: Wir bleiben zu Hause. Mehr noch kann man sagen: Der Appell, Opfer zu bringen, stand im Zentrum. Es waren die Mittel der zentralen Verwaltungswirtschaft, mit der die Pandemie gemanagt worden ist. Das ist nicht nur fragwürdig mit Blick auf die Ergebnisse, es ist auch eine Gefahr, weil das eine Einladung zur Vetternwirtschaft sein konnte. Übrigens: Ich halte es für falsch, wenn die Grünen pauschal von Unionsfilz sprechen. Es stärkt nicht unsere politische Kultur, wenn man individuelle Verfehlungen zur Charakterfrage einer ganzen Partei macht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das sollte man nicht tun. Aber umso mehr ist es jetzt erforderlich, auch innerhalb der Bundesregierung zu fragen, was eigentlich aus den Einflussnahmen geworden ist. Ich habe keinen Zweifel daran, dass hier alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Es wäre aber sinnvoll, Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie durch einen Sonderermittler mit richterlicher Unabhängigkeit, der Akten einsehen kann, für die Öffentlichkeit transparent machen, dass im Bundesministerium für Gesundheit bei den Beschaffungsprozessen alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
(Beifall bei der FDP)
Wir brauchen – darauf will ich ja hinaus – eine andere Pandemiepolitik auch hinsichtlich der Strategie, weg von „Wir bleiben zu Hause“, von der Zentralverwaltungswirtschaft, hin zu Vertrauen und zu marktwirtschaftlichen Lösungen. Was heißt das? Es heißt, darauf zu vertrauen, dass Handel, Gastronomie, Tourismus, Hotellerie, Kultur und Sport wirksame Hygienekonzepte entwickelt haben, die sie im eigenen Interesse achten und umsetzen wollen. Vertrauen wir also den Betrieben, dass sie in der Lage sind, ihre Kundinnen und Kunden zu schützen. Machen wir das Vorliegen eines Schnelltestes zur Voraussetzung dafür, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Und, Frau Bundeskanzlerin, ich sage Ihnen: Wenn für die Menschen mit einem Schnelltest verbunden ist, dass sie zum Beispiel wieder an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen können, dann wird ohne staatliche Lenkung, einfach aus der gesellschaftlichen Mitte heraus, mit Erfindergeist mehr Testkapazität geschaffen.
(Beifall bei der FDP)
Vertrauen wir stärker auf die kommunale Ebene. Wenn der Landkreistag – das ist ja jetzt nicht eine Oppositionspartei – ebenfalls einen Neustart fordert, weg von den Inzidenzwerten, hin zu mehr regionaler Differenzierung, dann ist das doch richtig. In Bayern muss jedes Modellvorhaben von der CSU-Staatsregierung genehmigt werden, da ist gar nicht die regionale Eigenverantwortung stark. Alles muss zentral aus München genehmigt werden. Also stärken wir die Kommunen!
Und nicht zuletzt: Kommen wir bitte zu mehr Pragmatismus beim Impfprozess, und zwar jetzt, indem wir Hausärztinnen, Fachärzte auch in großem Umfang beteiligen. Ich verstehe das Eigeninteresse der öffentlichen Hand an den Impfzentren. Wir können aber mehr Tempo aufnehmen, wenn wir mit Pragmatismus die Praktikerinnen und Praktiker in diesen Prozess einbeziehen.
(Beifall bei der FDP)
Frau Bundeskanzlerin, Sie sprechen heute mit dem amerikanischen Präsidenten im Format des Europäischen Rates. Ich schlage vor, dass Sie das Angebot unterbreiten, zu einem speziellen EU/USA-Impfgipfel zusammenzukommen. Die Vereinigten Staaten haben Impfdosen, die sie selbst im Inland nicht verwenden. Hier besteht die Möglichkeit der Kooperation. Das ist besser, als über Exportverbote in der Europäischen Union nachzudenken. Vor allen Dingen sollte, kann und muss mit den Vereinigten Staaten darüber gesprochen werden, wie beide, USA und Europäische Union, auf die geostrategische Impfpolitik Russlands und Chinas mit Blick auf die Schwellenländer, auf den afrikanischen Kontinent, eine Antwort geben können. Wir sollten das China und Russland nicht allein überlassen.
(Beifall bei der FDP)
Mein letzter Gedanke zu Next Generation Europe – mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident; ich bringe es auf einen kurzen Punkt –: Es kostet nicht viel Mühe, Gründe zu finden, warum man Next Generation Europe und dem EU-Wiederaufbaufonds jetzt nicht zustimmen wollte – Konjunktiv –, beispielsweise wegen der Unterschätzung des Binnenmarkts; da bräuchten wir Impulse. Wir können ja nicht nur im Format der staatlichen Investitionen und der öffentlichen Ausgaben denken, wenn wir Wachstum wollen. Da wäre im Binnenmarkt mehr möglich gewesen. Dennoch ist es ein guter Schritt, in der Pandemie zusammenzuhalten.
Im letzten Jahr haben die sogenannten Sparsamen Vier auch Veränderungen herbeigeführt – Konditionalität der Mittelauszahlung. Die Sparsamen Vier haben erreicht, dass das Europäische Semester, also Reformvorhaben, beim Auszahlen mitgedacht wird. Ich habe im Juli des letzten Jahres aufgrund der politischen Freundschaft zu Herrn Rutte geschrieben, Mark Rutte sei der eigentliche Nachfolger von Wolfgang Schäuble. Mir ist schon klar, dass im Regierungshandeln die Bundesrepublik Deutschland im Sinne einer dienenden Führungsrolle nicht nur an der Seite der Frugal Four gehen kann. Aber so einseitig, wie sich Ihre Regierung den Vertretern mediterraner Finanzpolitik genähert hat, sollte das zukünftig nicht fortgesetzt werden.
Herr Kollege Lindner.
Deshalb, Herr Präsident, mein letzter Satz. Ich persönlich werde zustimmen, aber aus anderen Gründen als Herr Scholz. Alles, was Herr Scholz am europäischen Wiederaufbaufonds rühmt – gemeinsame Schulden und gemeinsame EU-Steuern –, wollen wir in der Zukunft politisch verändern,
(Beatrix von Storch [AfD]: Aber Sie stimmen zu!)
und das passiert in den nächsten Jahren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der FDP – Jan Korte [DIE LINKE]: Stabil marktradikal!)
Jetzt erteile ich das Wort dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion, Ralph Brinkhaus.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7510703 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 218 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |