26.03.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 219 / Tagesordnungspunkt 31

Ursula SchulteSPD - Landwirtschaft in Deutschland

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten heute verschiedene Anträge der AfD und der Grünen, die sich alle mit dem Thema „Ernährung und Landwirtschaft“ befassen. Ich will mich auf den Antrag zum Thema Lebensmittelverschwendung konzentrieren, erstens weil das, wie ich finde, ein wichtiges Thema ist, zweitens weil mir das Thema am Herzen liegt und drittens weil ich – in Anlehnung an die Rede von Artur Auernhammer – eine gewisse Leidenschaft für dieses Thema entwickelt habe.

Ich denke, Sie werden mir alle zustimmen, wenn ich sage, Lebensmittelverschwendung dürfte es eigentlich nicht geben. Lebensmittelverschwendung ist ein großes Problem, und zwar eines, das viel zu lange von uns allen vernachlässigt wurde.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Stephan Protschka [AfD])

Je nach Studie landen in Deutschland pro Jahr zwischen 12 und 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll und damit genau dort, wo sie ganz bestimmt nicht hingehören. Da sehr viel Obst und Gemüse weggeworfen wird, spiegelt sich darin auch die Wertschätzung für die Arbeit der Landwirte wider. Das, denke ich, ist ein besonderes Argument, um gegen die Lebensmittelverschwendung anzugehen.

Dieser Zustand ist aus mehreren Gründen nicht hinnehmbar. Zum einen ist eine Gesellschaft, in der einwandfreie Nahrungsmittel massenhaft weggeworfen werden, ethisch auf dem falschen Weg. Man muss sich doch vor Augen halten, dass 700 Millionen Menschen auf der Welt hungern – Tendenz steigend, auch bedingt durch die Coronapandemie –, während wir in Deutschland Brot aussortieren, weil es vom Vortag ist, oder Tomaten, weil sie eine Macke haben. Was für ein Luxus, was für eine Verschwendung! Zum anderen verursacht Lebensmittelverschwendung hierzulande etwa 4 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen und befeuert damit den Klimawandel. In jedem produzierten Lebensmittel stecken wertvolle Ressourcen: Wasser, Boden, Energie, Arbeitskraft. Das alles war sozusagen für die Katz, wenn das Lebensmittel am Ende nicht konsumiert, sondern weggeschmissen wird.

Was müssen wir also tun, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir unser Ziel erreichen wollen, bis 2030 die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren? Zum einen brauchen wir verlässliche Daten. Wir haben zwar seit 2019 mit der sogenannten Baseline-Studie des Thünen-Instituts eine Grundlage, anhand derer wir künftige Erfolge messen können. Doch selbst die Autoren der Studie gestehen ein, dass vieles auf Schätzungen beruht, deren Aussagekraft eben begrenzt ist. Deshalb muss sich die Datenlage verbessern, auch durch mehr Transparenz der Unternehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Daten sind das eine. Wir müssen aber vor allem entlang der gesamten Wertschöpfungskette Lebensmittelverluste reduzieren oder, wenn möglich, vermeiden. Das fängt auf dem Acker an und hört bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern auf. Jede und jeder Einzelne von uns kann da etwas tun, indem er überlegter einkauft, besser lagert und Reste verwertet. Verschwendung im eigenen Haushalt wird so vermieden. Der gute alte Einkaufszettel – analog oder digital – kann da sehr hilfreich sein.

Allerdings, finde ich, macht man es sich zu einfach, wenn man die Schuld nur bei den privaten Haushalten sucht. Stattdessen müssen auch alle anderen Bereiche in die Verantwortung genommen werden,

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

von der Primärproduktion über die Verarbeitung bis hin zum Handel und zur Außer-Haus-Verpflegung. Mit der Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung hat die Bundesregierung deshalb einen Ansatz entwickelt, der alle Stufen der Wertschöpfungskette umfasst. Das ist gut. Ich will auch nicht in Abrede stellen, dass von Dialogforen und freiwilligen Zielvereinbarungen – das sind die wesentlichen Säulen der Strategie – Impulse ausgehen können. Erfahrungen aus anderen Zusammenhängen zeigen aber klar und deutlich, dass mit freiwilligen Selbstverpflichtungen a) die Ziele in der Regel nicht erreicht werden und b) zu viel Zeit ungenutzt verstreicht.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Martin Rabanus [SPD] und Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Beispielhaft genannt seien hier Sorgfaltspflichten in der Lieferkette, unlautere Handelspraktiken oder die Reduktion von Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten. Deshalb plädieren wir als SPD für entschlossenere Schritte. So sollten wir auch endlich aufhören, den vielen engagierten Lebensmittelretterinnen und ‑rettern die Arbeit unnötig zu erschweren. Wir müssen dringend haftungsrechtliche Hürden für die Weitergabe von Lebensmitteln abbauen, etwa indem gemeinnützige Organisationen, die Lebensmittelspenden entgegennehmen, als Endverbraucher definiert werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, jetzt komme ich zu einem etwas heiklen Thema: Die Tafeln brauchen finanzielle Unterstützung für den Aufbau ihrer Infrastruktur. Dabei – und das ist mir ganz wichtig – sollen sie nicht die Defizite des Sozialstaates ausgleichen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Nezahat Baradari [SPD])

Kein Mensch sollte so arm sein, dass er auf den Gang zur Tafel angewiesen ist. Anfangs stand bei der Tafelbewegung auch nicht die Bekämpfung der Armut im Vordergrund, sondern die Lebensmittelrettung. Die Tafeln sind für mich die Kompetenzzentren in Sachen Lebensmittelrettung schlechthin. Und ich wünsche mir, dass auch die Kundinnen und Kunden der Tafel ein anderes Selbstbewusstsein entwickeln. Schließlich bewahren sie Jahr für Jahr über 260 000 Tonnen kostbare Lebensmittel vor der Vernichtung und tun damit Gutes für die Umwelt und für das Klima. Wir sollten vielleicht einmal gemeinsam schauen, wie wir diesen Aspekt stärker in den Vordergrund rücken können, ohne den Kampf für soziale Gerechtigkeit aufzugeben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Ohne die Tafeln – davon bin ich zutiefst überzeugt – werden wir unser Ziel, die Lebensmittelverschwendung zu halbieren, nicht erreichen. Deswegen ärgert es mich auch maßlos, dass immer wieder ganze Lkw-Ladungen mit gespendeten Lebensmitteln abgelehnt werden müssen, weil es den Tafeln an Lager-, Kühl- und Transportmöglichkeiten fehlt. Im Haushalt 2021 haben wir deshalb auf SPD-Initiative Mittel bereitgestellt, um die Tafeln hier zu unterstützen. Das ist ein weiterer wichtiger Schritt hin zu weniger Lebensmittelverschwendung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, leider kann unser derzeitiger Lebensabschnittsgefährte dem gesetzlichen Wegwerfstopp für Lebensmittel, wie ihn Frankreich 2016 eingeführt hat, nichts abgewinnen, dabei ist das Gesetz durchaus positiv zu bewerten. Das finde ich sehr schade. Das werden wir natürlich, wenn wir die Wahlen gewinnen und dann an der Regierung beteiligt sind, wovon ich fest ausgehe, ändern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Harald Ebner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Wer etwas wegwirft oder Sachen unbrauchbar macht, sollte Strafe zahlen. Das ist unsere Losung.

Es gibt noch viele weitere Stellschrauben. Obwohl ich sieben Minuten Redezeit hatte, läuft mir die Zeit davon. Ich will nur an die eco-Plattform und an eine Studie zum sogenannten Lebensmittelcoaching erinnern. Auch intelligente Verpackungen unterstützen wir schon finanziell. Und zum Mindesthaltbarkeitsdatum mache ich noch einmal darauf aufmerksam, dass viele Verbraucherinnen und Verbraucher Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum oft verwechseln. „ Zu gut für die Tonne!“ ist ein wunderbares Mittel, um noch mehr Wertschätzung für die Lebensmittel zu erreichen. Auch die EU-Vermarktungsnormen sind wir schon angegangen. 26 Vermarktungsnormen sind 2009 abgeschafft worden. Auch das sprechen Sie in Ihrem Antrag an.

Mein Fazit: In dieser Legislaturperiode haben die Bundesregierung und die sie tragende Koalition sehr viel im Bereich Lebensmittelverschwendung auf den Weg gebracht. Davon bin ich total überzeugt, und darauf bin ich auch ein bisschen stolz. Ich möchte mich vor allem bei den vielen Helferinnen und Helfern der Tafel, aber auch der anderen Initiativen bedanken. Hier sind es vor allen Dingen junge Frauen, die sich dem Thema Lebensmittelrettung verschrieben haben. Wir würden einiges gerne noch verbindlicher regeln, aber wie gesagt: Dafür brauchen wir andere Mehrheiten.

Ich finde, der AfD-Antrag ist überholt. Viele der 15 Forderungen sind schon abgearbeitet oder auf den Weg gebracht. Wir werden den Antrag also ablehnen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Artur Auernhammer [CDU/CSU])

Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann, Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7511187
Wahlperiode 19
Sitzung 219
Tagesordnungspunkt Landwirtschaft in Deutschland
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