16.04.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 222 / Zusatzpunkt 6

Christian LindnerFDP - Bevölkerungsschutzgesetz

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der weit überwiegende Teil dieses Hauses wird bei der Beschreibung der Lage übereinstimmen: Sie ist ernst. Das zeigen uns die Infektionszahlen. Ich habe mich gestern von der Leitung der Charité noch einmal darüber unterrichten lassen, welche Entwicklung auf den Intensivstationen zu beklagen ist.

Es hilft auch nichts, dass wir in Deutschland uns mit London vergleichen, wo es in dieser Woche ja Öffnungsschritte bei der Gastronomie und im Handel gegeben hat. Es macht auch keinen Sinn, zu beklagen, welche Managementfehler es in den vergangenen Monaten seitens der Politik gegeben hat. Das hilft uns in dieser Situation jetzt nicht. Es muss nun schnell, wirksam und rechtssicher gehandelt werden.

(Beifall bei der FDP – Zurufe von der AfD)

Eine wirksame Maßnahme ist die Maskenpflicht. Eine wirksame Maßnahme ist die Begrenzung der Kontakte der Haushalte. Eine wirksame Maßnahme ist eine Teststrategie; der Fingerzeig auf die Wirtschaft ersetzt eine solche Teststrategie indessen nicht. Angesichts der Soziodemografie der Schwererkrankten empfiehlt sich eine gesundheitliche Aufklärung auch nicht nur in der deutschen Sprache. Vor allem müssen wir das Tempo beim Impfen erhöhen

(Beifall bei der FDP)

durch den Einsatz aller Reserven, durch die zeitliche Streckung zwischen Erst- und Zweitimpfung und durch die Einbeziehung des gesamten niedergelassenen Bereichs. Schnelle, wirksame und rechtssichere Maßnahmen stehen uns zur Verfügung.

Der jetzige Gesetzentwurf ist ja eine Reaktion auf das Scheitern der sogenannten Osterruhe. Es ist richtig, dass nun bundeseinheitlich gehandelt wird. Meine Fraktion hat bundeseinheitliche Wenn-dann-Regeln bekanntlich im Dezember vorgeschlagen. Hier in diesem Gesetzentwurf gibt es allerdings nur eine nicht differenzierte Regel für das ganze Bundesgebiet.

Es ist im Übrigen auch richtig, den Deutschen Bundestag zu beteiligen und nicht ausschließlich auf die Bund-Länder-Runde der Regierungschefinnen und Regierungschefs zu setzen. Trotzdem nimmt es wunder, dass es nun gar keine Beteiligung der Länder mehr geben soll. Es hätte sie ja geben können. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hatte ja sogar ein Vorziehen der Bund-Länder-Runde vorgeschlagen. Montag wäre sie regulär gewesen, und nun gibt es keine. Ich glaube, dass das die falschen Konsequenzen aus dem Scheitern der Osterruhe sind, Frau Bundeskanzlerin, auch im Verfahren.

(Beifall bei der FDP)

Im Kern dieser sogenannten Bundesnotbremse – das ging aus dem Beitrag der Bundeskanzlerin und auch der Kollegin der SPD hervor – steht nun die Ausgangssperre. In der Praxis bedeutet das, dass ein geimpftes Ehepaar aufgrund eines Ausbruchs kilometerweit entfernt in einem einzelnen Betrieb daran gehindert wird, alleine nach 21 Uhr zum Abendspaziergang vor die Tür zu treten. In diesem einen praktischen Beispiel, diesem Lebenssachverhalt, drückt sich die ganze, im Übrigen auch verfassungsrechtliche Problematik aus: keine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nichtgeimpften, keine differenzierte Bewertung des Infektionsgeschehens – Clusterausbruch oder diffus –, keine anderen Parameter. Deshalb haben die Praktikerinnen und Praktiker des Deutschen Landkreistages so vehement gegen diese Regelung protestiert.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Die sind immer gegen alles!)

– „Die sind immer gegen alles“, Herr Brinkhaus; das ist nun ein Misstrauensvotum gegenüber der kommunalen Ebene, das Sie gerade zum Ausdruck gebracht haben.

(Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Kommen Sie zu dem, was Sie wollen!)

Im Übrigen ist auch die Wirksamkeit der Maßnahme umstritten. Der wissenschaftliche Beirat der französischen Regierung hat die dort über zwei Monate ab 18 Uhr bestehenden Ausgangssperren wissenschaftlich evaluieren lassen mit dem Ergebnis, dass sie eben keinen Beitrag zur Begrenzung der Infektionen geleistet haben.

(Beifall bei der FDP)

Aus diesem Grund ist das, was Sie zur Ausgangssperre hier regeln wollen, hochproblematisch.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Erstaunlich, mit welcher Chuzpe hier gelogen wird! Das ist erstaunlich!)

Wir werden Ihnen Vorschläge machen, dieses Gesetz verfassungsfest zu machen.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Politische Profilierung auf Kosten von Kranken und Toten!)

– Entschuldigen Sie bitte, Herr Kollege Brinkhaus. In dieser Situation verfassungsrechtliche Bedenken anzumahnen, wie wir das tun, das sollten Sie eher schätzen. Denn Sie können kein Interesse daran haben, dass dieses Gesetz, weil Sie auf keinen Hinweis eingehen, am Ende in Karlsruhe scheitert.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Was ist Ihr Vorschlag?)

Der Schaden für das Vertrauen in die Pandemiepolitik insgesamt wäre immens, wenn Sie verfassungsrechtliche Bedenken nicht ernst nähmen.

(Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nur destruktiv!)

– Es ist überhaupt nicht nur destruktiv.

(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Doch, die FDP ist nur destruktiv! Seit zwölf Monaten destruktiv! Seit zwölf Monaten!)

– Herr Kollege Brinkhaus, die Art und Weise, wie Sie hier argumentieren, spricht eigentlich für sich.

(Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Nein! – Dr. Marco Buschmann [FDP]: Unbürgerlich!)

Im Übrigen will ich sagen: Wenn Sie auf diese Bedenken, die ja nicht nur von uns vorgetragen werden, nicht eingehen, sehen wir aus der FDP-Fraktion uns gezwungen, den Weg nach Karlsruhe im Wege von Verfassungsbeschwerden zu gehen.

(Beifall bei der FDP)

Diese Ausgangsbeschränkung ist im Übrigen nicht nur verfassungsrechtlich hochproblematisch.

(Stephan Brandner [AfD]: Der soll sich erst mal beraten lassen! Wie soll das denn funktionieren?)

Der Kollege Lauterbach hat gestern, wie ich glaube, realistischerweise darauf hingewiesen, dass aufgrund der Art und Weise, wie diese Notbremse ab einer Inzidenz von 100 nun automatisch ausgelöst werden soll, es an vielen Orten über viele Wochen zu einer Ausgangssperre kommen könnte. Da muss man unterscheiden: Es gibt diejenigen, die in komfortablen Wohnverhältnissen leben. Aber was ist denn mit den Studierenden im Einzimmerapartment? Was ist denn mit der Familie, die ohne Balkon in einer Etagenwohnung auf engerem Raum zusammenlebt? Diese Menschen werden möglicherweise, wenn Herr Lauterbach mit seiner Prognose recht hat, über Wochen in ihren Räumen sein,

(Beifall des Abg. Michael Theurer [FDP] – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Zwischen 21 Uhr und 5 Uhr morgens!)

während es draußen bereits hell ist. Der soziale Schaden, der damit verbunden ist, ist enorm.

(Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Das ist doch so irre! Dass der Mann sich nicht schämt, was er da sagt!)

Im Übrigen, Herr Kollege Brinkhaus, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis: Sie haben in Ihrem Gesetzentwurf die Möglichkeit des testbasierten Öffnens gestrichen. Der Vorsitzende des Teams Vorsicht, der bayerische Ministerpräsident, hat am 7. April mit seinem Landeskabinett beschlossen, dass bei einer Inzidenz zwischen 100 und 200 Terminshopping mit Test und ab einer Inzidenz von 200 immer noch Handel nach dem Modell „Click and Collect“ möglich ist.

(Zuruf des Abg. Stephan Brandner [AfD])

Das sagt der Vorsitzende des Teams Vorsicht! Verehrte Anwesende, liebe Kolleginnen und Kollegen, entweder ist das eine Frage des politischen Charakters, oder es könnte dafür sprechen, dass vom Handel ohne Kontakt tatsächlich kein Infektionsrisiko ausgeht. Ich neige der zweiten Interpretation zu.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Debakel der Osterruhe darf sich nicht wiederholen. Deshalb ist mein Appell an die Regierungsfraktionen: Nehmen Sie die aus den Ländern, aus der Rechtswissenschaft, von Praktikern und auch aus dem Parlament vorgetragenen verfassungsrechtlichen Bedenken ernst!

(Stephan Brandner [AfD]: Und von der AfD!)

Machen Sie es sich bitte nicht so leicht wie der Kollege Brinkhaus!

(Beifall bei der FDP)

Zu einer Zwischenbemerkung erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach, SPD.

(Stephan Brandner [AfD]: Oje, oje! Der Hofnarr! – Gegenruf von der SPD: Halt doch die Klappe!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7515429
Wahlperiode 19
Sitzung 222
Tagesordnungspunkt Bevölkerungsschutzgesetz
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta