21.04.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 223 / Tagesordnungspunkt 4

Kerstin GrieseSPD - Vereinbarte Debatte - Suizidhilfe

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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! 2015 hat der Deutsche Bundestag nach intensiver Debatte und mit einer sehr großen Mehrheit beschlossen, den geschäftsmäßigen, also auf Wiederholung angelegten, assistierten Suizid mit dem § 217 StGB unter Strafe zu stellen. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Gesetz am 26. Februar 2020 aufgehoben. Dieses Urteil ist zu respektieren, und wir haben uns intensiv damit beschäftigt, was daraus folgt. Das Gericht hat uns, den Gesetzgeber, aufgefordert, zu klären, wie das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen gesichert werden kann. Für mich ist ganz wichtig: Selbstbestimmung heißt Schutz vor Druck, Schutz vor einer schweren, irreversiblen Entscheidung; denn es geht in diesem Fall um Leben und Tod.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Eine einsame alte Dame, ein schwerkranker Mann, der zu Hause von seinen Angehörigen gepflegt wird, ein Bettlägeriger im Pflegeheim, ein seit vielen Jahren pflegebedürftiger schwerstbehinderter Mensch, ein Mensch in einer schweren depressiven Phase: Sie alle haben das Recht auf Selbstbestimmung und das Recht, vor fremdbestimmten und übereilten Sterbewünschen geschützt zu werden. Selbstbestimmung kann ohne den Schutz der Schwachen nicht funktionieren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und der FDP)

Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen endet dort, wo das Recht auf Leben eines anderen infrage gestellt wird. Die Achtung vor dem Leben, auch vor dem leidenden, dem schwerkranken und behinderten Leben, gehört zur Selbstbestimmung dazu.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Benjamin Strasser [FDP])

Menschen in extremen Leidenssituationen dürfen nicht in eine Situation geraten, sich rechtfertigen zu müssen, wenn sie Angebote zum Beispiel von sogenannten Sterbehilfevereinen ablehnen. Niemals darf sich jemand dafür rechtfertigen müssen, dass er oder sie weiterleben will.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Benjamin Strasser [FDP])

Für mich ist daher klar, dass es das Geschäft mit dem Tod und Werbung dafür nicht geben darf. Deswegen darf es Suizidbeihilfe im Rahmen des Grundgesetzes nur dann geben, wenn die Selbstbestimmung durch umfassende Beratung und Begutachtung sichergestellt und vor allem und zuallererst mit Angeboten der Suizidprävention verbunden ist. Denn wir wissen von den vielen Forschungen und Erfahrungen der Psychiatrie, der Palliativmedizin und der Seelsorge, dass ein Sterbewunsch sich oft – und manchmal sogar sehr schnell – wieder ändert und dass er fast immer ein Hilferuf ist, so nicht weiter leben zu wollen.

Auf einen Sterbewunsch und auf die Ängste von Menschen vor Schmerzen und Leid ist die richtige Antwort eben nicht der Giftbecher auf dem Nachttisch für den einsamen Suizid, sondern wir haben Patientenverfügungen, die sichern, dass der Wille des Patienten gilt. Niemand muss Behandlungen mit sich machen lassen, die er oder sie nicht will, keine Therapie, auch kein künstliches Weiterleben.

Die Angst vor Schmerzen kann mit den inzwischen sehr weit entwickelten Möglichkeiten der Palliativmedizin beantwortet werden. Niemand darf und niemand muss qualvoll sterben. Und die Angst vor Einsamkeit können wir nicht mit einem Gesetz nehmen, sondern dafür brauchen wir eine sorgende Gesellschaft, und das geht jeden Menschen jeden Tag an.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben die Pflicht, nicht nur die Selbstbestimmung des Einzelnen im Blick zu haben, sondern auch die Auswirkungen auf unser Zusammenleben, auf das gesellschaftliche Klima. Ich befürchte, dass eine verhängnisvolle neue Normalität entstehen kann, in der der assistierte Suizid zum Normalfall werden kann, wenn wir bundesweit Suizidberatungsstellen aufbauen, wie es andere Entwürfe fordern. Unsere Nachbarländer zeigen, wohin der Weg führt, wenn der assistierte Suizid erleichtert wird: Die Zahlen steigen an, und nicht nur Schwerstkranke wollen die Möglichkeit in Anspruch nehmen. In einigen Ländern ist auch die aktive Sterbehilfe, die in Deutschland ja nach § 216 StGB verboten ist, der Normalfall geworden.

Frau Kollegin, kommen Sie zum Schluss.

Deshalb müssen wir auf Suizidprävention setzen. Die Antwort muss sein, dass Menschen im Alter, in psychischen Krisen und bei Krankheiten Hilfe, Unterstützung und Zuwendung bekommen. Der Satz „Ich will sterben“ ist immer einer, der vom Gegenüber verlangt, sich Zeit zu nehmen, Zeit, nach den Gründen zu fragen, Zeit für Hilfe und Zuwendung.

Frau Kollegin, bitte.

Und dann kann es immer auch ethische Einzelentscheidungen geben.

Ich möchte in einer sorgenden und solidarischen Gesellschaft leben. Ich unterstütze deshalb den Ansatz der Kolleginnen und Kollegen Lars Castellucci, Ansgar Heveling, Kirsten Kappert-Gonther, Benjamin Strasser und Kathrin Vogler.

Frau Kollegin.

Es ist gut, dass wir uns aus allen fünf demokratischen Fraktionen zusammengefunden haben, um die bestmöglichen Konsequenzen aus dem Urteil zu entwickeln, damit die Würde des Lebens und die Selbstbestimmung, die immer zusammengehören, geachtet werden.

Vielen Dank.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Kollegin, erlauben Sie mir den Hinweis, dass ich das von Ihnen extrem unsolidarisch finde. Wir haben uns auf drei Minuten Redezeit geeinigt; Sie haben vier Minuten und zehn Sekunden gesprochen, trotz meiner mehrfachen Hinweise.

(Kerstin Griese [SPD]: Entschuldigung!)

– Alles gut. Ich will gerade bei dieser Debatte die Rede nicht unterbrechen oder Ihnen das Wort entziehen, weil ich das für unangemessen halte. Aber wir sollten uns vielleicht doch an die Regeln halten.

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7516536
Wahlperiode 19
Sitzung 223
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte - Suizidhilfe
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