Michael Roth - Aktuelle Stunde - Wachsende Gefahr einer Eskalation in der Ostukraine
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Russland lässt uns nicht los, und das aus sehr ernstem Grund. Die russische Führung tritt zunehmend aggressiv auf, betreibt insbesondere gegen Deutschland üble Desinformationskampagnen, setzt den kritischen Teil der russischen Zivilgesellschaft massiv unter Druck und destabilisiert eine gesamte Region.
Erst vor wenigen Wochen haben wir an dieser Stelle, hier im Parlament, über Russland gesprochen, damals aus Anlass des inakzeptablen Umgangs der russischen Regierung mit Alexej Nawalny und weiteren Andersdenkenden. Herr Nawalny wurde am Montag zwar in ein Krankenhaus verlegt, aber unsere ernste Sorge um seine Gesundheit bleibt, zumal wir hören, dass ihn bislang kein Arzt seines Vertrauens besuchen oder behandeln darf. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist inhuman und gefährdet Gesundheit und Leben von Alexej Nawalny.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nawalnys Inhaftierung widerspricht zudem Russlands völkerrechtlichen Verpflichtungen aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und ist unzulässig. Alexej Nawalny muss unverzüglich freigelassen werden genauso wie die weit über 1 000 Menschen, die gestern in Russland bei Demonstrationen für seine Freilassung bzw. für bessere Haftbedingungen festgenommen wurden. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir werden uns ebenso dafür einsetzen, dass Russland den schweren Giftanschlag auf Nawalny auf russischem Boden vollumfänglich aufklärt und die Täter endlich zur Rechenschaft zieht. Der Einsatz chemischer Waffen ist ein weiterer fundamentaler Verstoß gegen internationales Recht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Russland verhält sich gegenüber der Ukraine zunehmend aggressiv. Die russische Führung gefährdet damit Frieden, Stabilität und Souveränität nicht nur der Ukraine, sondern der gesamten Region. Seit Ende März gibt es massive russische Truppenbewegungen in der Nähe der russisch-ukrainischen Grenze sowie auf der illegal annektierten Krim. Anders als die russische Seite behauptet, sind diese Bewegungen in ihrer Art und Anzahl eben nicht routinemäßig.
Besonders beunruhigend ist die damit verbundene rhetorische Zuspitzung seitens ranghoher Vertreter der russischen Regierung. So wird etwa vor einer geplanten Eskalation seitens der Ukraine gewarnt. Hierauf müsse Russland zwangsläufig reagieren, um die russischsprachige Bevölkerung im Donbass auch militärisch zu schützen. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, für diese faktenfreie Behauptung gibt es keinerlei Grundlage. Es gibt keine Hinweise auf ukrainische Planungen für eine Offensive gegenüber den abtrünnigen Gebieten im Donbass. Ukrainische Regierungsvertreter, aber auch der Generalstabschef haben wiederholt klargestellt: Die Ukraine plant keine militärischen Aktionen, sondern sie arbeitet weiter an einer diplomatischen Lösung des Konflikts.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Der ukrainische Präsident Selenskyj hat Russlands Präsident Putin zu einem bilateralen Treffen eingeladen. Für diese konstruktive und verantwortungsvolle Haltung in dramatischen Zeiten bin ich sehr dankbar.
Russland muss nun seinen eigenen substanziellen Beitrag für einen Abbau der Spannungen leisten. Daran arbeitet die Bundesregierung gemeinsam mit ihren europäischen und internationalen Partnerinnen und Partnern. Die Bundeskanzlerin hat Präsident Putin zu einem Rückzug der Truppen von den Grenzen der Ukraine aufgefordert, und es scheint inzwischen auch Bewegung auf der russischen Seite zu geben. Ich hoffe, dass den heutigen Ankündigungen auch konkrete Taten folgen werden.
Eine weitere wichtige Rolle bei der Deeskalation sollte auch die OSZE spielen. Das setzt aber eine konstruktive Haltung Russlands voraus.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Wir begrüßen, dass die Ukraine den entsprechenden Mechanismus des Wiener Dokuments aktiviert hat, und ich bedaure es sehr, dass Russland die Chance bislang wiederholt vertan hat, Transparenz über seine Truppenbewegungen zu schaffen und somit ein notwendiges Mindestmaß an Vertrauen aufzubauen. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass Russland seine Verpflichtungen im OSZE-Rahmen einhält und für Klarheit sorgt. Wir erwarten, liebe Kolleginnen und Kollegen, von Russland keine generöse Geste, wir erwarten auch nicht etwas Unzumutbares. Wir erwarten schlicht die Einhaltung dessen, wozu sich Russland als Mitgliedsland der OSZE verpflichtet hat.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Seit 2014 setzt sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich im Normandie-Format für eine Beilegung des Konflikts in der Ostukraine ein. Auch wenn die Verhandlungen oft mühsam und nicht frei von Rückschlägen sind, sehen wir durchaus Erfolge. So hat der Waffenstillstand vom Juli 2020 zu einem deutlichen Rückgang der Zahl der an der Kontaktlinie getöteten Soldaten, Zivilistinnen und Zivilisten geführt. In den vergangenen Wochen ist der Waffenstillstand jedoch immer wieder gebrochen worden. Seit Anfang Januar wurden 37 ukrainische Soldaten und 9 Zivilisten und Zivilistinnen getötet – ein trauriger Höchststand! Mit unseren französischen Partnern sind wir uns einig: Im Zentrum der Bemühungen müssen nun die Deeskalation und eine Stabilisierung des Waffenstillstands stehen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Mit diesem Einsatz stehen wir nicht allein. Erst am Montag haben sich die EU-Außenministerinnen und -Außenminister mit ihrem ukrainischen Amtskollegen Kuleba ausgetauscht. Die territoriale Integrität der Ukraine muss von Russland anerkannt werden. Sie ist für uns nicht verhandelbar.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)
Wir unterstützen den besonnenen Kurs der ukrainischen Regierung und nicht zuletzt auch die wichtigen Reformschritte der vergangenen Monate. Gerade Fortschritte im Bereich der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit sind weitere Meilensteine auf dem europäischen Weg des Landes. Aber weitere müssen folgen, und dabei unterstützen wir das Land so gut es irgend geht.
Die Notwendigkeit genau dieses Dreiklangs, liebe Kolleginnen und Kollegen – Deeskalation, Solidarität mit der Ukraine und Reformen –, haben wir im Kreis der G 7 und der NATO bekräftigt. Dabei ziehen wir alle Instrumente unseres diplomatischen Instrumentenkastens in Erwägung. Diskussionen über weitere Sanktionen gegen Russland, wie sie teilweise gefordert werden, sind nachvollziehbar, leisten aber unseres Erachtens aktuell keinen Beitrag zur Lösung der Krise. Aus Sicht der Bundesregierung ist klar: Wir werden gemeinsam mit unseren Partnerinnen und Partnern keine Möglichkeit für eine diplomatische Lösung ungenutzt lassen.
Aber lassen Sie mich hier auch über die Grenzen unseres Bemühens offen sprechen. Der Schlüssel für einen Abbau der Spannungen liegt in Moskau. Moskau muss seinen aggressiven Kurs beenden. Wir fordern eine rhetorische Deeskalation von der russischen Seite und endlich vollumfängliche Transparenz über die militärischen Bewegungen im Umfeld der Ukraine.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Differenzen zwischen uns und Russland sind fundamental. Aber das darf uns im direkten Umgang mit Moskau nicht sprachlos werden lassen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Natürlich haben wir ein großes Interesse an einem besseren Verhältnis zu Russland. Das haben wir der russischen Seite bilateral und auch im Rahmen der EU immer wieder deutlich gemacht. Zahlreiche Kooperationsangebote liegen längst auf dem Tisch, aber zum Tango gehören eben immer auch zwei. An Gesprächskanälen und ‑foren mit Russland mangelt es nun wahrlich nicht.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es gibt in Moskau derzeit leider kaum Bereitschaft, diese für einen offenen, ehrlichen, faktenbasierten Dialog zu nutzen. Moskau muss sich nun erklären und uns sagen, wie es zu unseren Angeboten steht. Wir schlagen keine Türen zu.
Wir haben uns gemeinsam mit unseren Partnern in der EU, in der NATO, im Europarat und in der OSZE für den zugegebenermaßen schwierigeren Weg entschieden: möglichst belastbare Kanäle für die gemeinsame Lösung der Probleme offenhalten und im direkten Umgang mit Moskau Klartext reden. Dabei dürfen wir uns jedoch nicht spalten lassen. Nur aus Zusammenhalt und Teamgeist wachsen Stärke und die Chance auf Veränderung zum Besseren.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das war die halbe Wahrheit! – Petr Bystron [AfD]: Das ist schon sehr generös umschrieben!)
Auf der Ehrentribüne hat Seine Exzellenz, Herr Dr. Melnyk, der Botschafter der Ukraine, Platz genommen. – Ich begrüße Sie herzlich.
(Beifall)
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Anton Friesen für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7516729 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 224 |
Tagesordnungspunkt | Aktuelle Stunde - Wachsende Gefahr einer Eskalation in der Ostukraine |