22.04.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 224 / Zusatzpunkt 4

Alexander Graf LambsdorffFDP - Aktuelle Stunde - Wachsende Gefahr einer Eskalation in der Ostukraine

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im September wird gewählt, und zwar nicht nur hier bei uns in Deutschland, sondern auch in Russland. Die Duma-Wahlen stehen vor der Tür, und die Nervosität im Kreml steigt mit jedem Tag. Die Opposition wird drangsaliert, NGOs diskriminiert, Nawalny inhaftiert. Man könnte glatt glauben, im Kreml denkt man, demokratische Kräfte stünden kurz vor einem großen Wahlsieg. Die Umfragen legen das nahe. Vor einem Jahr noch stand Jedinaja Rossija, die Partei des Kreml, bei 45 Prozent. Heute sind es noch 27 Prozent.

Gleichzeitig steigt die Zustimmung zu rechten und linken Kräften, zur Partei von Schirinowski, zu den Kommunisten. Die Opposition hat kaum Bewegungsfreiheit. Anhänger liberaler Parteien werden an der Wahl gehindert, ihre Registrierung wird unterbunden. Der demokratische Wettbewerb findet praktisch nicht statt. Trotzdem sehen wir eine Repression im Inneren, die ihresgleichen sucht. Warum? Weil der Lebensstandard sinkt, die Korruption unverändert ist, aber das Renteneintrittsalter steigt. Und, meine Damen und Herren, im Kreml hat man die Proteste vom Bolotnaja-Platz noch nicht vergessen, als eine Wahl schiefgegangen ist.

Jede legitime Opposition in Russland wird zur Agentin einer Farbrevolution gestempelt, zur Vollstreckerin des Willens der CIA, zu einer Feindin des russischen Volkes. Meine Damen und Herren, das ist falsch. Die Russinnen und Russen haben Demokratie verdient. Es ist ein großes Volk, das sich demokratisch auch selbst regieren kann, und dabei sollten wir es unterstützen.

(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Aber zur Verteidigung gegen diese imaginären Feinde im Inneren kommt eben dann auch noch die Verteidigung gegen imaginäre Feinde von außen. In diesem Zusammenhang müssen wir den Aufmarsch der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Grenze zwischen Woronesch und Rostow sehen. Circa 120 000 Soldaten, gepanzerte Verbände, Infanterie, Artillerie, sogar Landungsboote aus dem Kaspischen Meer wurden verlegt, Lazarette gleich mit. Die Straße von Kertsch wurde gesperrt, das Asowsche Meer gleich mit. Die Häfen der Ukraine sind nicht länger zugänglich.

Angeblich beruht all das auf feindlichen Aktivitäten der NATO. Meine Damen und Herren, nein, es gibt dort keine feindlichen Aktivitäten der NATO. Punkt! Das sind Fake News, das ist Desinformation. Das ist das, was wir, lieber Herr Gauland, von Ihnen als Tatsache hören. Es sind keine Tatsachen. Es sind Falschbehauptungen. Schluss. Ende der Durchsage. Das ist russische Desinformation.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Nein, Graf Lambsdorff, da liegen Sie völlig falsch! Sie haben die NATO ausgedehnt nach Osten! Sie haben das gemacht! Fragen Sie mal Herrn Teltschik, was der Ihnen sagt! Sie haben angefangen!)

Das Ziel ist doch ein ganz anderes: Russland will die souveräne Ukraine einschüchtern. Es will bekräftigen, dass im nahen Ausland die Staaten nur eine eingeschränkte Souveränität haben. Wir können nicht ausschließen – wir können es bis heute trotz der Ankündigung von Verteidigungsminister Schojgu nicht ausschließen –, dass es unter Umständen sogar die Vorbereitung einer militärischen Invasion ist. Die Fähigkeiten jedenfalls sind da.

Nun hat gestern Präsident Putin in seiner Poslanije, der Rede zur Lage der Nation, rote Linien gezogen. Ich will mit Genehmigung der Präsidentin mal zitieren, was er hier gesagt hat:

Organisatoren jedweder Provokationen, die die Kerninteressen unserer

– also der russischen –

Sicherheit bedrohen, werden ihre Taten so bereuen, wie sie lange nichts bereut haben. … Aber ich hoffe, dass niemandem in den Sinn kommt, Russland gegenüber die sogenannte rote Linie zu überschreiten. Wo sie verläuft, werden wir in jedem konkreten Fall selbst entscheiden.

Meine Damen und Herren, das Ziel ist klar: Es geht hier darum, Unberechenbarkeit zu schaffen, Willkürpolitik zu betreiben, Regellosigkeit zu etablieren, das Recht des Stärkeren an die Stärke des Rechts zu setzen. Das werden wir nicht akzeptieren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir halten uns an das Völkerrecht, an die Charta der Vereinten Nationen, an die Schlussakte von Helsinki, an die Europäische Menschenrechtskonvention. Das sind alles Dokumente – es ist hier gesagt worden –, die Russland unterschrieben hat. Wir verlangen von Russland nichts, was Russland nicht selber unterschrieben hat, und wir werden Moskau immer wieder daran erinnern, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)

Gewaltverzicht zwischen Staaten, Grenzverschiebungen – wenn überhaupt, dann nur im Konsens – und die Grund- und Menschenrechte gelten. Dazu gehört auch der Respekt vor Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte,

(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

der die Freilassung von Alexej Nawalny verlangt hat. Unsere roten Linien sind die blaue Tinte, mit denen all diese Dokumente unterschrieben wurden.

Wie sollen wir jetzt reagieren, meine Damen und Herren? Erstens. Unsere Solidarität gilt der Ukraine. Zweitens. Das Normandie-Format muss wiederbelebt werden. Drittens. Außenminister Maas hat verlangt, dass wir in der NATO eine geschlossene Position einnehmen, und gleichzeitig den Weiterbau von Nord Stream 2 verkündet. Ja, was denn nun? Skandinavier, Balten, Polen, Franzosen, der amerikanische Kongress, das Europaparlament, alle sind der Meinung, es handele sich hierbei um ein geopolitisches Projekt zum Nachteil der Ukraine.

Meine Damen und Herren, ich fordere die Bundesregierung auf: Entwickeln Sie eine geschlossene Position innerhalb der Bundesregierung, bevor Sie die NATO-Verbündeten zu einer geschlossenen Position selber aufrufen. Wir brauchen ein Moratorium für Nord Stream 2. Wir wollen, dass Russland seine Politik ändert. Wenn es das tut, ist es uns als Mitglied der europäischen Völkerfamilie wieder herzlich willkommen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Anmaßend, Graf Lambsdorff! Anmaßend! Die Russen werden sich bedanken bei Ihnen! – Gegenruf des Abg. Michael Theurer [FDP]: Die Ukraine ist auch Rechtsnachfolger der UdSSR! Das haben Sie ja wohl vergessen, dass Russland nicht Rechtsnachfolger der UdSSR ist! – Gabriele Katzmarek [SPD]: Er trägt ja sein eigenes Geschichtsbuch bei sich! – Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Völkerrechtskenntnisse sollte man haben, Kollege! Sonst wird es peinlich!)

Das Wort hat die Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7516733
Wahlperiode 19
Sitzung 224
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Wachsende Gefahr einer Eskalation in der Ostukraine
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