19.05.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 229 / Zusatzpunkt 2

Helge LindhSPD - Antisemitismus, jüdische Vielfalt in Deutschland

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Frage, die wir uns zu stellen haben, ist: Wollen wir den Antisemitismus wirklich ernsthaft, mit Ergebnissen, bekämpfen, oder wollen wir uns in unseren Befindlichkeiten und üblichen ideologischen Auseinandersetzungen darin bestätigen,

(Zuruf von der FDP: Hat der Vorredner doch schon beantwortet!)

wir hätten recht gehabt, wie Sie, Frau von Storch und Herr Hess, es eben auf schlimmste Weise beispielhaft vorgeführt haben? Wenn wir den Antisemitismus ernsthaft bekämpfen wollen, dann müssen wir zunächst feststellen, dass nach der Polizeilichen Kriminalstatistik der überragende Teil der erschreckend hohen Zahl im Hellfeld festgestellter antisemitischer Straftaten auf politisch motivierter Kriminalität von rechts beruht. Wir müssen aber auch feststellen, dass es ein Dunkelfeld gibt. Wir gingen es nicht ernsthaft an, wenn wir sagen würden: Antisemitismus ist ein Problem der Rechtspopulisten oder der Rechtsextremisten. Dann würden wir das nämlich als ein Problem der anderen beschreiben. Aber es ist nicht wie bei Sartre „L’enfer, c’est les autres“ – die Hölle sind die anderen –, sondern die Hölle sind wir. Es geht um uns selbst und um die Mitte der Gesellschaft.

Wir würden es auch nicht ernsthaft tun – das sage ich als jemand, der aus dem politisch linken Spektrum kommt –, wenn wir so täten, als ob wir als Linke oder antifaschistisch Eingestellte dagegen immunisiert wären. Es gibt RAF, es gibt Entebbe und viele andere Beispiele. Auch dem müssen wir uns stellen. Zugleich gibt es auch keine Immunisierung, wenn man Opfer von Rassismus ist, sondern man kann trotzdem selbst Antisemitismus ausüben.

Aber wenn wir es ernsthaft machen wollen, ist es auch nicht zielführend, wenn wir vom importierten oder eingewanderten Antisemitismus sprechen. Zum einen importiert man Waren und nicht Menschen. Das ist keine sinnvolle Formulierung.

(Martin Hess [AfD]: Einstellungen!)

Zum Zweiten sprechen wir von Menschen, die zum Teil gar nicht geflüchtet oder eingewandert, sondern hier geboren sind. Auch das ist Teil der Realität.

(Beatrix von Storch [AfD]: Das macht die Sache nur noch schlimmer!)

Zum Dritten sollten wir uns in dem Zusammenhang mit angebrachter Demut vergegenwärtigen, dass es niemand sonst als die Deutschen waren, die auf schrecklichste Weise Vernichtung und Mord exportiert haben, zum Beispiel auf polnischen Boden.

Deshalb sollten wir uns die Folgen von Antisemitismus deutlich machen. Ich erinnere dabei einfach nur an Christopher Browning und sein Werk „Ganz normale Männer“, in dem er rekonstruiert hat, wie ganz normale Deutsche, nicht einmal alle tief antisemitisch sozialisiert, aber in einem antisemitischen staatlichen Umfeld aufgewachsen, keine Probleme hatten, massenhaft Jüdinnen und Juden mit der Waffe nicht einfach industriell, sondern Face to Face zu ermorden. Am Abend hörten sie Brahms, Wagner oder schrieben Briefe an ihre Familien. Dem allen müssen wir uns stellen, wenn wir uns mit Antisemitismus und dessen Folgen seriös, mit aller gebotenen Ernsthaftigkeit auseinandersetzen wollen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Daher danke ich ausdrücklich auch Felix Klein. Ich tue es, gerade weil ich manchmal schlucke, wenn er sich in Debatten so offensiv gibt. Aber genau das ist richtig, dass ich auch schlucke und mit meinen eigenen Zweifeln konfrontiert werde; denn das ist seine Aufgabe, und die macht er sehr gut. Er muss unbequem sind, er muss Stachel in unserem Fleische sein und uns fordern und herausfordern mit dieser Deutlichkeit, die er mit seinem Team in seinem Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland klar zeigt.

Deshalb, glaube ich, ist es auch notwendig, dass wir uns ernsthaft um Antisemitismus in all seinen Facetten im Alltag kümmern. Deshalb bin ich wie arretiert über Debatten, wie wir sie erlebt haben, beispielsweise über die Akademieleiterin des Jüdischen Museums; denn das sind sehr merkwürdige und verschobene intellektuelle Feuilleton-Debatten. Ich denke dabei an die Verteidigung, die sie erfahren hat durch Micha Brumlik, und die Verteidigung, die sie durch Meron Mendel und durch Max Czollek erfahren hat. Und wenn ich das sage, ertappe ich mich dabei, dass ich mich vielleicht auf die drei berufe, weil sie Juden sind. Das heißt, wir sollten immer bei dieser Debatte auch nach dem möglichen Antisemitismus in uns selbst fahnden und danach gucken, wie weit wir selbst der Falle der Selbstrechtfertigung, der Instrumentalisierung anheimfallen.

Also, ich fasse zusammen: Im Kampf gegen den Antisemitismus müssen wir erstens gleichermaßen mit einem Pathos der Nüchternheit alle Formen des Antisemitismus, egal welcher Herkunft, welches ideologischen Lagers, benennen.

Zweitens macht es keinen Sinn, das als ein Problem außerhalb Deutschlands zu betrachten; denn wir als Gesellschaft, als diverse Gesellschaft, müssen es gemeinsam angehen.

Drittens. Instrumentalisierungsdebatten bringen im realen Kampf gegen Antisemitismus gar nichts.

Kommen Sie bitte zum Schluss.

Wir können gerne auf dem Rücken von Antisemitismus Asyl- und Migrationsdebatten führen. Aber so werden wir mit Sicherheit diesen Kampf gegen Antisemitismus in dieser Gesellschaft, in der wir leben, nicht gewinnen.

Und viertens – das ist, glaube ich, zu kurz gekommen – –

Nein, Kollege, jetzt kommen Sie bitte zum Schluss.

All diejenigen, –

Herr Kollege, jetzt bitte noch einen Satz.

– die heute gegen Antisemitismus sprechen, stellen sich oft in die Rolle von Jüdinnen und Juden, ob sie sich nun einen Judenstern mit der Aufschrift „ungeimpft“ anheften oder im Kontext – –

(Das Mikrofon wird abgeschaltet)

Herr Kollege Lindh, ich habe Ihnen gerade das Wort entzogen.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Sie haben 40 Sekunden überzogen. Trotz mehrmaliger Bitte sind Sie meiner Aufforderung nicht gefolgt. Die Geschäftsordnung verpflichtet mich dazu, Ihnen das Wort zu entziehen; § 35 Absatz 3 der Geschäftsordnung. Das ist hiermit geschehen.

Ich bitte alle Beteiligten, auf die wirklich liebevollen Mahnungen von mir zu hören; denn wenn wir alle die Redezeiten in gleicher Weise überziehen, haben wir zwei Stunden obendrauf, und das ist den Mitarbeitern des Deutschen Bundestages nicht zuzumuten.

Nächster Redner ist der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7522427
Wahlperiode 19
Sitzung 229
Tagesordnungspunkt Antisemitismus, jüdische Vielfalt in Deutschland
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