19.05.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 229 / Tagesordnungspunkt 4

Johann SaathoffSPD - Russlandpolitik

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer sich mit den Beziehungen zwischen Deutschland und Russland ernsthaft beschäftigt, kommt an den dunklen Seiten unserer Geschichte nicht vorbei. Ich möchte zu Beginn meiner Rede Michail Schwydkoj zitieren, der letzte Woche geschrieben hat:

Heutzutage wird leider Gottes immer seltener daran erinnert, dass zwei Völker, die in zwei blutigsten Weltkriegen des 20. Jahrhunderts gegeneinander gekämpft hatten, die innere Kraft fanden, sich nicht nur politisch, sondern auch menschlich zu versöhnen.

Dieser Satz stimmt für so viele Beziehungen Deutschlands mit den Ländern, die unter der deutschen Besatzung in zwei Weltkriegen gelitten haben. Das nationalsozialistische Deutsche Reich hat Europa mit Krieg und Gewalt, mit Not und Elend überzogen. Und zur historischen Wahrheit gehört: Orte nationalsozialistischer Verbrechen wie Chatyn in Belarus, Babyn Jar in der Ukraine, die entsetzliche Hungerblockade von Leningrad haben im deutschen Geschichtsbewusstsein erst spät einen Platz gefunden und sind womöglich noch heute nicht jedem Deutschen ein Begriff. Es ist wichtig, dass wir das Bewusstsein erhalten für das, was der deutsche Staat vor 80 Jahren verbrochen hat. Nie wieder – das muss auch für die kommenden Generationen gelten.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Deutschland hat mit dem Bekenntnis zur europäischen Einigung eine wichtige Konsequenz aus der eigenen Geschichte gezogen. Die politische Antwort auf den Zweiten Weltkrieg ist gegenüber Russland und der Ukraine die Gleiche wie gegenüber Polen und Frankreich: Wir wollen uns nicht als Feinde sehen. Wir wollen Frieden und Versöhnung in Europa.

Der vorliegende Antrag enthält viele wichtige und richtige Aspekte, die kaum jemand von uns infrage stellen wird. Es gibt über Hundert Städtepartnerschaften zwischen deutschen und russischen Städten, Tausende enge Kontakte; ja, auch Tausende Freundschaften sind daraus entstanden. Dies gilt es zu fördern, genauso wie den Schüler- und Jugendaustausch.

Dabei ist mir persönlich wichtig, dass wir nicht nur über den Austausch von Studentinnen und Studenten reden. Wir brauchen auch – vielleicht sogar vor allem – den Austausch von jungen Menschen, die vielleicht keine akademische Karriere anstreben, aber mit ihrem Beruf und ihrer Familie in der Mitte ihrer Gesellschaft stehen.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Internationale Freundschaft und Versöhnung dürfen eben nicht eine Frage des Schulabschlusses sein.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir müssen mehr Begegnungen ermöglichen, gerne durch den Abbau der Visapflicht. Das alles sind wichtige Mittel, um die Versöhnung zwischen den Menschen fortzusetzen. So entstehen Verbindungen und Freundschaften.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Und erst recht wollen wir gemeinsam mit Russland die Pariser Klimaziele erreichen, angesichts der Jahrzehnte währenden Energiepartnerschaft mit Russland und des Potenzials für erneuerbare Energien, das in diesem riesigen Land vorhanden ist.

Vor 30 Jahren trat der Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit in Kraft. Dieser gilt auch heute noch im Verhältnis zu Russland. Darin ist vieles festgehalten, was auch heute noch aktuell ist: dass wir den gesellschaftlichen Austausch fördern, dass wir uns für ein friedliches Europa und die Geltung des Völkerrechts einsetzen sowie die geltenden Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich anerkennen.

Im Antrag wird ein neuer Vertrag für die Beziehungen mit Russland vorgeschlagen. Ich meine: Bevor wir die Beziehungen mit Russland in einem neuen Vertrag regeln wollen und dabei feststellen, dass wir uns schon über die Grenzen nicht einig sein werden, sollten wir den bestehenden Vertrag mit Leben füllen. Dieser hat nichts an Aktualität verloren und ist in dem vollen Bewusstsein für die damalige gemeinsame Geschichte verfasst worden.

(Beifall bei der SPD)

Im Februar habe ich einen Kranz am Denkmal für die Opfer der Leningrader Blockade niedergelegt und die beeindruckende Gedenkstätte besucht. Es war bewegend, das Leid der Menschen in der fast drei Jahre dauernden unmenschlichen Blockade in Leningrad zu erahnen. Daniil Granin hat eine unvergessliche Rede dazu am 27. Januar 2014 genau an dieser Stelle gehalten. Es werden viele Reden an diesem Pult gehalten, aber wohl nur ganz wenige davon gehen so ans Herz wie die von Herrn Granin.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es gibt noch viele weitere, unzählige unbekannte Orte, die für das Leid von Russinnen und Russen stehen, bis hin zu den vielen Gräbern von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern in Deutschland. In vielen russischen Familien sind die Geschichten ihrer Vorfahren noch präsent. Dasselbe gilt auch für die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Der grausame Feldzug traf noch vor dem heutigen Russland die Gebiete des heutigen Belarus und der Ukraine und deren Bevölkerung besonders hart.

Heute ist es leider nicht möglich, zu einem gemeinsamen Gedenken mit allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu kommen. Deutschland trägt aber eine Verantwortung gegenüber den Menschen in all diesen Staaten. Das Bewusstsein für die Schrecken des Krieges, für das Leiden der Menschen, für die grausamen Schicksale und für die Sinnlosigkeit aller Kriege darf nicht verlorengehen. Man muss erinnern, um nicht zu vergessen.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Dafür, liebe Kolleginnen und Kollegen, braucht es nicht nur den Staat. Es braucht vor allen Dingen auch eine aktive Zivilgesellschaft in unseren Ländern, eine Zivilgesellschaft, die auch mal den Finger in die Wunde legt, die aber für eine demokratische Entwicklung eines Landes unverzichtbar ist.

(Zuruf von der LINKEN: Sehr richtig!)

Und die russische Zivilgesellschaft, die sich kritisch mit der Geschichte befasst, die den Austausch mit der Zivilgesellschaft im Ausland sucht, ob in Deutschland, in Polen oder in der Ukraine, gerät in Russland durch neue Gesetzgebung leider gerade in Gefahr, ein sogenannter ausländischer Agent zu werden. Dabei ist es doch gerade dieser Austausch, der die Lehren der Geschichte für nachfolgende Generationen bewahren muss.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Unsere Politik, liebe Kolleginnen und Kollegen, muss auf den Frieden in Europa ausgerichtet sein. Dafür ist der Dialog mit Russland unerlässlich und in der heutigen Zeit sogar wichtiger denn je. Bundesaußenminister Heiko Maas hat es gestern in seinem Grußwort zu den Potsdamer Begegnungen gesagt: Keines der Probleme wird durch Schweigen gelöst. Lösungen entstehen nur, indem wir miteinander reden. – Oder auf Platt: Mitnanner prooten is dusend mal mehr wert, as overnanner raargen.

Die wichtigste Botschaft am 22. Juni muss sich an die Menschen richten, in Deutschland, Russland, Belarus, der Ukraine und der ganzen früheren Sowjetunion: Wir sind keine Feinde und wollen es nie wieder werden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Saathoff. – Als nächster Redner spricht zu uns der Kollege Bijan Djir-Sarai, FDP-Fraktion.

(Beifall bei der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7522452
Wahlperiode 19
Sitzung 229
Tagesordnungspunkt Russlandpolitik
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine