Carsten SchneiderSPD - 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einigen Jahren, als ich noch ein sehr junger Parlamentarier war, war ich in St. Petersburg und lief mit vielen jungen Leuten an der Newa entlang, also in der Stadt, in der die Deutschen eines der größten Verbrechen des Zweiten Weltkriegs verübt haben – mehrere Kolleginnen und Kollegen haben das heute schon erwähnt –, nämlich die Belagerung von Leningrad. Wenn man weiß, dass dabei über 1 Million Menschen starben, die Stadt über drei Jahre lang abgeschnitten war und ausgehungert werden sollte, dann ist es umso erstaunlicher, wie junge Russen uns dort heute begegnen, dass wir die Möglichkeit zum Dialog haben, dass sie uns Deutschen gegenüber offen sind.
Mir ist gerade erst wieder bewusst geworden, Frau Kollegin Roth, als Sie das Ihnen im Geschichtsunterricht vermittelte Bild schilderten, dass ich das in der DDR ganz anders erlebt habe.
(Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)
Ich durfte Russisch lernen. Mir wurden all diese Dinge aus einem anderen Blickwinkel vermittelt. Es ist interessant, zu sehen, wie unterschiedlich die Erfahrungen in West- und Ostdeutschland sind, vielleicht auch in der Affinität und der Nähe zu Personen. Ich erinnere mich oft und gern daran – ich bin in einem Dorf in der Nähe von Weimar aufgewachsen; es gab dort einen großen Stützpunkt von sowjetischen Soldaten –, dass diese oftmals zu uns kamen und wir mit ihnen unter anderem Diesel gegen Nahrungsmittel getauscht haben. All das gehört zum Bild dazu. Es gehört vor allen Dingen zu der großen, fast unmenschlichen Leistung, die die Menschen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion uns Deutschen gewähren, nämlich uns zu verzeihen – den Überfall und den Krieg Nazideutschlands, begonnen 1941, zu verzeihen. Dafür bedanke ich mich im Namen meiner Fraktion und verneige mich vor den Opfern.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Neben dem Band der Kriegsgeschichte verbindet uns – ich will in die Zukunft schauen – natürlich auch das Band der Kulturgeschichte. Weimar habe ich genannt: Maria Pawlowna war diejenige, die die Kultur im großen Maße nach Thüringen, nach Weimar gebracht hat. Aber ich will auch Tschaikowski, Dostojewski, Puschkin, Schostakowitsch, Mozart und Goethe nennen. All dies ist europäische, deutsche, russische, sowjetische Kulturgeschichte, über 1 000 Jahre alt.
Es ist klar, dass wir in den letzten Jahren, insbesondere seit 1989, unterschiedliche Wege gehen: wir in der Einbindung in der EU und der NATO, Russland und die ehemaligen Sowjetrepubliken ihren eigenen. Trotz der großen Distanz – es ist bereits darauf hingewiesen worden – insbesondere gegenüber der Regierung oder dem Autokraten in Minsk als auch in Moskau ist es unabdingbar, dass wir gemeinsam im Dialog bleiben, dass es nicht über eine Spirale der Eskalation, der Sanktionen und des Nichtdialogs zu Sprachlosigkeit kommt. Vielmehr brauchen wir insbesondere mit Russland immer auch einen Gesprächsfaden, wobei klar sein muss – das hat auch Heinrich August Winkler in einer Rede in 2015 in diesem Hause gesagt, dass Deutschland bei seinen mittel- und osteuropäischen Partnern in EU und NATO nie wieder den Eindruck erwecken darf, dass wir bilateral mit Russland über ihre Köpfe hinweg und gegen ihre Interessen Politik machen. – Auch das ist für mich eine Lehre aus der Geschichte.
Wir müssen, liebe Kolleginnen und Kollegen, durch Vorbild leben und inspirieren, durch klare Haltung, auch durch offene und womöglich kritische Worte.
Es gibt allerdings einen dritten Grund, warum wir insbesondere zu Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken ein vernünftiges, rationales Verhältnis brauchen, und der hat etwas mit Geografie zu tun. Russland nimmt fast die Hälfte unseres Kontinents ein. Russland ist, wie Egon Bahr es einmal formulierte, „unverrückbar“ ein Teil Europas. Daraus ergeben sich einige handfeste Folgen und Interessen. Wir haben ein fundamentales Interesse an friedvollen Verhältnissen auf dem Kontinent. Wir haben kein Interesse daran, dass sich Russland aus Europa verabschiedet. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist der Austausch, auch wenn er manchmal sehr, sehr schwer ist, ein Gebot aus bitterer Vergangenheit und strategisch gut geplanter Zukunft.
Deswegen ist der Jahrestag des Krieges – daran erinnern wir heute – so wichtig. Wir müssen den Frieden sichern, die Zusammenarbeit suchen und ausbauen. Frieden sichert man durch Abrüstung, militärisch und sprachlich. Zusammenarbeit entsteht durch gegenseitigen Respekt, Austausch und Gespräch, auch über wachsende Unterschiede hinweg. Die Verantwortung für Frieden auf unserem Kontinent ist größer als alle Unterschiede, die uns trennen. Es ist eine gemeinsame Verantwortung, für die Deutschland in besonderer Weise eintreten muss. Auch das ist für mich eine zentrale Lehre des 22. Juni 1941.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Nächster Redner ist der Kollege Tino Chrupalla, AfD.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7526276 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 232 |
Tagesordnungspunkt | 80. Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion |