10.06.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 233 / Zusatzpunkt 10

Helge LindhSPD - Integrationsprobleme durch kulturelle Prägungen

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe seit gestern heftige, hämmernde Kopfschmerzen. Seit ich in der Nacht die vier Anträge der AfD gelesen habe, ist es eine manifeste Migräne geworden. Diese Migräne ist aber nichts gegenüber den Kopfschmerzen – und das ist noch harmlos ausgedrückt –, gegenüber diesem dauerhaften Schmerz, den eine solche Haltung, wie sie in den Anträgen dokumentiert ist, und den auch die Diskurse, die sich darum bewegen, bei den Musliminnen und Muslimen und Menschen, die in diesem Land als migrantisch identifiziert werden, seit Jahren auslösen. Über diesen Schmerz, den sie tagtäglich erleben, sollten wir einmal sprechen.

(Beifall bei der SPD)

Ich ziehe das auf mit einer Anspielung auf Bill Clinton: „It’s the economy, stupid“. Ich nenne es: It’s the language, stupid. – Gucken wir uns die Sprache einmal an. Auch im Titel der heutigen Debatte und auch auf der Seite des Bundestages findet man einerseits Integrationsprobleme durch kulturelle Prägung, andererseits politisch-religiöse Einstellung, und in einem Untertitel findet sich dann auch noch Antragsberatung zu Integrationspolitik. Alles wieder sauber zusammengerührt: Religion, Islam, Integration, Migration. Es gibt in diesem Land – nur als kleine Anleitung – Musliminnen und Muslime, die hier geboren sind, die man nicht integrieren muss im Gegensatz zur AfD-Fraktion.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])

Vielleicht wäre das eine Überlegung, der man sich einmal annähern könnte.

Und dann findet sich interessanterweise in dem Link für die ganz frisch in der „Zeit“ vorgestellten Studie von Ruud Koopmans, die Sie sicher sehr begrüßen werden, folgende Wortfolge: Islam, Deutschland, Forschung, Extremismus, Kopftuch. – Interessant! Dieses Bild vermitteln wir – ich spreche jetzt einmal vom „Wir“ als gesellschaftlichen Diskurs – seit Jahren, seit Jahrzehnten,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das Bild der Realität!)

auch noch orchestriert von Titeln in Magazinen mit betenden Muslimen, bärtigen Männern und Ähnlichem. Das sind die Bilder, die wir vermitteln und die wir auch sprachlich vermitteln, und Sie machen das ganz besonders.

Dann noch ein Drittes. Sie – wieder die Sprache – sprechen von Verhaltenskultur, kulturellen Prägungen und verhaltenskulturellem Agieren. Das Interessante an Ihrem Antrag ist: Was Sie als Muster beschreiben – Parallelgesellschaft, Probleme mit der Religionsfreiheit, Probleme mit der Toleranz, traditionelle Frauenfeindlichkeit, Probleme mit der bürgerlich westlichen Werteordnung –, passt genau auf Sie.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sagen die Wissenschaftler!)

Das ist entweder unfreiwillige Komik oder ungeahnte Selbstkritik; Sie können es sich aussuchen.

(Beifall bei der SPD)

Dass Sie von Verhaltenskultur sprechen, ist nicht zufällig; das hat System. Was Sie machen, ist eine Kulturalisierung des Diskurses und im Übrigen – man muss nur den Antrag lesen; ich habe es getan – eine Kulturalisierung der Kriminalpolitik, die Sie sich in den Statistiken wünschen. Das ist ein durchschaubares Spiel; denn der Rassismus von heute kommt nicht mehr platt biologistisch daher, einfach nur mit dem Rassebegriff, sondern der verkauft sich als Kultur. Deshalb ist bei Ihnen auch ganz gezielt der Begriff Verhaltenskultur zu finden.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das Landeskriminalamt von NRW spricht so!)

Das, was Sie machen, um es beim Namen zu nennen, und anstreben, ist eine Rassifizierung des deutschen Rechts; nichts anderes. Die AfD will eine Rassifizierung des deutschen Rechts. Es hat noch mehr System – it’s the language, stupid –: verhaltenskulturell. Lesen Sie einmal Max Weber, aber Sie in der AfD haben ja ein gewisses Nichtverhältnis zur deutschen Geistesgeschichte. Er unterscheidet zwischen subjektivem Handeln – das machen Individuen, Subjekte – und Verhalten. Bei Muslimen kommen Sie natürlich mit Verhalten. Verhalten ist, geistesgeschichtlich betrachtet, im Deutschen so was wie rein reaktiv, instinktiv.

Damit kommen wir zum entscheidenden Punkt. Was machen wir eigentlich in diesen Debatten über Musliminnen und Muslime?

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das haben Sie bis heute nicht verstanden!)

Was machen wir tagtäglich mit unserer Bevormundung und unserem paternalistischen Gestus? Dabei geht es mir nicht um abstrakte Identitätsdebatten, es geht mir nicht ums Feuilleton; die Diskurse sind mir in diesem Moment völlig egal. Es geht mir darum: Was für eine Botschaft senden wir – Sie mit Ihrem Antrag, aber auch wir – mit vielen Debatten, die wir hier führen, und der Art, wie wir sie führen? Was für eine Botschaft senden wir an den Chemieunternehmer, der der Vater meines Mitarbeiters ist und der muslimisch ist und sich so versteht? Was für eine Botschaft senden wir an die muslimische Akademikerin, die Influencerin im Netz ist? Was für eine Botschaft senden wir an den muslimisch identifizierten Mitarbeiter des Saaldienstes hier im Bundestag? Und was für eine Botschaft senden wir an die muslimische Frau, die mir heute Morgen bei Dussmann das Brötchen gereicht hat?

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Über die habe ich gar nicht gesprochen!)

Was senden wir an sie alle aus? Wie sprechen wir darüber? Was meinen Sie, wie diese Personen es empfinden, wenn man so über sie spricht: „Ja, ihr seid ja gut integriert“, „Ihr seid so liberal“, oder „Toll, wie ihr das friedliche Zusammenleben garantiert“. Wenn ich muslimisch wäre, muslimisch identifiziert würde, hätte ich die Schnauze voll in diesem Land, tagtäglich. Es ist doch Grundverständnis in Deutschland, dass jeder Mensch, der hier lebt, als Subjekt Würde hat, Anerkennung erfährt, respektiert wird und sich nicht zu erklären und zu rechtfertigen hat.

Es gibt Religionsfreiheit im Grundgesetz. Das heißt, man hat die Freiheit, zu glauben; man hat aber auch die Freiheit, nicht zu glauben. Und jetzt kommt’s: Man hat damit auch die Freiheit, sich nicht erklären zu müssen, ob man glaubt oder nicht glaubt, und sich nicht zu seinem Glauben bekennen zu müssen. Man hat die Freiheit. Jeder Christ in diesem Land hat selbstverständlich das Recht, sich für seinen Glauben nicht rechtfertigen zu müssen, keine wandelnde Kategorie zu sein, sondern als Subjekt wahrgenommen zu werden und nicht immer als Repräsentant des Christentums.

Verdammt noch mal – das regt mich auf –, wenn wir es nicht endlich schaffen, allen Musliminnen und Muslimen in diesem Land diese gleichberechtigte Anerkennung zu gewähren und das zu überwinden, was wir mit der sogenannten Islamkritik in Ihren Anträgen, aber auch in vielen unserer Beiträge – ich beziehe mich selbst ein – leisten, –

Kollege.

– dann versündigen wir uns gegen den Unternehmer, gegen die Mitarbeiterin von Dussmann,

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Über die habe ich nicht gesprochen!)

gegen die Influencerin und auch gegen all die anderen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Christoph Bernstiel das Wort.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7526426
Wahlperiode 19
Sitzung 233
Tagesordnungspunkt Integrationsprobleme durch kulturelle Prägungen
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