Christian SchmidtCDU/CSU - Russlandpolitik
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Zusammenbruch der Sowjetunion, schreibt Henry Kissinger 2014 in seinem Werk „Weltordnung“, verschob – Zitat – „die Akzente der Diplomatie“. Der kalte Krieg sei fälschlicherweise vom Westen „nicht als ein geopolitischer Kampf um die Grenzen der russischen Macht“ gesehen worden, sondern „als ein moralischer Kreuzzug für die freie Welt“. In der Tat gibt es unterschiedliche Betrachtungsweisen, wie man das Blockdenken dieser Zeit in eine neue Weltordnung überführen sollte. Kissinger schrieb dies zu der Zeit, als Wladimir Putin in seiner geopolitischen Strategie eben gerade einen an die Sowjetunion mindestens anzuknüpfenden Expansionismus statuierte und zu vollziehen begann.
Und so wie der Realpolitiker Kissinger in einem früheren Artikel in den frühen 90er-Jahren sich mit der Frage beschäftigte, wohin sich Russland wenden wird, ob nach Europa und damit auch hin zu dessen Wertestruktur oder als eurasische Großmacht nach Osten, so muss auch der heutige Kissinger neu denken. Damals sagte er, dass die russische – Ergänzung von mir – „Noch“-Großmacht geopolitische Spielräume auch im Osten – heute würde ich sagen, auch im Süden – suchen wird. Er sagte auch, dass es wichtig wäre, dass Habeas Corpus, also die Grundsicherheit der individuellen Menschen- und Bürgerrechte, gewährleistet sein müsste, auch wenn – Ergänzung von mir – die russische Staatsführung nicht aus „lupenreinen Demokraten“ bestünde. Also Grundkonsens bei den Menschenrechten. Damit gaben wir uns irgendwie alle zufrieden, und es gab ja auch Signale der nichtexpansiven Rationalität.
Ich erinnere mich, 2008 Teilnehmer eines Gesprächs mit dem damaligen Staatspräsidenten Medwedew gewesen zu sein, aus dem Zbig Brzezinski, früher nationaler Sicherheitsberater der USA unter Jimmy Carter, herausging und nahezu beschwingt unser Gespräch kommentierte, dass er jetzt an eine wirkliche Annäherung und an einen Ausgleich zwischen Russland und dem Rest der Welt glaube, so sehr habe ihn der junge Präsident beeindruckt. Er und wir hatten übersehen, dass Medwedew nur geschickt gesetzter Platzhalter für Wladimir Putin war. Putin sieht manches anders. So wenig ihn Habeas Corpus wirklich schert, so wenig beeindruckt ihn ein auf Ausgleich gerichteter Politikansatz.
Zwar ist es müßig, darüber zu diskutieren, an welcher Stelle das Verhältnis zwischen Europa und Russland auseinandergeraten ist. In der Gesamtschau scheint es ein allmählicher, aber zielgerichteter Prozess zu sein, den wir so in den 90er-Jahren nicht haben kommen sehen und der sich auch nicht mit Fehlern des Westens erklären lässt.
Wir haben und wollen keine Konfrontation mit Russland, schon gar nicht mit dem russischen Volk. Gestern haben wir daran gedacht: Uns verbindet eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Gerade jetzt denken wir an den Überfall auf die Sowjetunion durch Hitlerdeutschland 1941. Mag Stalin seinerseits über Leichen gegangen sein, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion mit infolgedessen 25 Millionen Kriegstoten aus diesem Land ist und bleibt der verabscheuungswürdigste und inakzeptabelste Aggressionskrieg des 20. Jahrhunderts.
(Beifall des Abg. Johann Saathoff [SPD])
Schon deshalb haben Russland und die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein Anrecht auf Verbeugung vor den Toten und Verständigung mit den Lebenden. Aber wir können vor dem strategischen Agieren der gegenwärtigen russischen Regierung, sei es im Innern oder im Handeln nach Außen, nicht die Augen schließen. Hier geht es nicht um Ausrutscher von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, sondern um eine strukturierte Ersetzung eines demokratischen durch einen autoritären Staat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Florian Toncar [FDP])
Jeder mit solchem Einfluss auf den Nachbarn wie ihn Putin auf diesen primitiven weißrussischen Gewalttäter Lukaschenko hat, einen, wenn man will, Schlagstockfreak des reaktionären Zeitalters, müsste diesen in die Schranken weisen. Das wäre nicht nur Realpolitik; das macht man mit solchen Figuren grundsätzlich. Aber das findet nicht statt. Ganz im Gegenteil planscht man in Sotschi und man verabschiedet sich endgültig von Habeas Corpus.
Es ist auffällig, wie oft im Antrag der Grünen Präsident Putin erwähnt wird. Aber es ist nachvollziehbar; denn das putinistische System ist auf diese Nummer eins zugeschnitten. Wie können wir dem begegnen?
Wir müssen eine Strategie entwickeln, die flexible Antworten ermöglicht. Ja, wir müssen die Zivilgesellschaft unterstützen. Wir sollten nicht erwarten, dass sich Russland in ein paar Jahren zu einem liberalen Land westlicher Prägung entwickelt. Wir müssen aber scharfen Protest einlegen, insbesondere gegen dieses eigenartige Listungsgesetz, das freie Hand gibt, Organisationen wie zum Beispiel das Zentrum Liberale Moderne oder andere Nichtregierungsorganisationen außer Recht zu setzen, und Menschen gefährdet.
Wir müssen auch über die Instrumente und die Gremien, in denen wir gemeinsam arbeiten – sei es der Europarat oder seien es andere, wo man Gesprächskanäle offenhalten muss –, Hinweise geben und klare Positionen vertreten. Ich glaube, wir müssen deswegen auch mit unseren Bündnispartnern sehr viel mehr sprechen. Ich hoffe und erwarte, dass, wenn sich der neue amerikanische Präsident Biden und Putin wo auch immer in den nächsten Tagen treffen, wir mit dabei sind.
Die strategische Wahrnehmung in Deutschland muss des Weiteren identisch gemacht werden mit der in anderen Teilen Europas. Das heißt, dass wir auch über die Energiepolitik reden müssen. Denn eines ist die große Schwachstelle von Putin: Er hat es nicht geschafft, seine auf Rohstoffen basierende Wirtschaft zu modernisieren. Das unterscheidet ihn dramatisch von China. Deswegen hat er auch nicht die Kraft von China. Er wird sich mittelfristig sowieso nach Europa orientieren müssen.
Gestatten Sie mir, Frau Präsidentin, dass ich zu einem anderem Thema ganz kurz etwas sage, das mittelbar damit verbunden ist. Ich danke der Bundesregierung, insbesondere Frau Bundeskanzlerin Merkel, dass sie mich für den internationalen Posten des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina vorgeschlagen hat, und ich habe die Freude und die Ehre, von der internationalen Gemeinschaft hierfür benannt worden zu sein.
(Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Aber auch auf dem Balkan treffen westliche und russische Interessen aufeinander. Die russische Regierung hat meine Kandidatur nicht unterstützt. Dies folgt einer politischen Linie der Nichtkooperation. Ich möchte dies aber offen aufgreifen. Ich werde alles daransetzen, im Amt des Hohen Repräsentanten nicht nur den Frieden zu erhalten, sondern für die junge Generation zu arbeiten. Die wird die Konflikte der Großeltern einmal nicht mehr verstehen. Aber dazu brauchen wir Dialog, Gespräch und Bereitschaft, miteinander zu arbeiten, auch mit Moskau. Deswegen wird natürlich mein Weg auch in diese Hauptstadt führen. Ich lade die russische Regierung dazu ein, hier gemeinsam mit der internationalen Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Das brauchen wir in Europa. Das ist mittelfristig auch das Rezept für Herrn Putin, sein Land nach vorne zu bringen.
Danke.
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)
Vielen Dank, Christian Schmidt, und wir wünschen Ihnen für diese wichtige neue Aufgabe viel Kraft, viel Mut, viel Ausdauer, viel Geduld und viele neue Ideen; denn Ihre Aufgabe ist in der Tat die eines friedensstiftenden Brückenbauers. Dafür viel, viel, viel Kraft und viel Erfolg!
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Anton Friesen [AfD] und Niema Movassat [DIE LINKE])
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Waldemar Herdt.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 233 |
Tagesordnungspunkt | Russlandpolitik |