23.06.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 235 / Tagesordnungspunkt 1

Christoph MatschieSPD - Aktuelle Stunde zum geordneten Rückzug der NATO-Truppen aus Afghanistan

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Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Werte Soldatinnen und Soldaten! Ich will am Schluss dieser langen Debatte noch mal auf einen Kernpunkt der Auseinandersetzung zurückkommen. Afghanistan ist nicht die Erfolgsgeschichte, die wir uns alle gewünscht haben; so viele haben dafür gekämpft, viele mussten dabei auch ihr Leben lassen. Ja, es gibt sie, die positiven Entwicklungen – sie sind hier zu Recht benannt worden –, und Afghanistan ist heute ein anderes Land. Wer heute in Kabul unterwegs ist, der kann feststellen: Kabul ist offener, demokratischer und gleichberechtigter, als es jemals gewesen ist. Das haben wir mit unserem Einsatz auch erreichen können.

(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])

Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, der Anspruch, Afghanistan als Ganzes zu befrieden, demokratischer zu machen, der ist bis heute nicht erfüllt worden.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: Richtige Feststellung! – Franziska Gminder [AfD]: Ach was!)

Wir gehen nicht, weil wir unsere Ziele erreicht haben; wir gehen, weil sich die USA entschieden haben, sich jetzt zurückzuziehen.

(Tobias Pflüger [DIE LINKE]: So ist es!)

Wir haben immer über einen Rückzug geredet, der mit Konditionen verknüpft ist. Aber es war auch immer klar – und das sage ich in die Richtung der Linksfraktion –: Wir gehen gemeinsam in diesen Einsatz, und wir gehen gemeinsam raus. – An dieser Stelle stehen wir heute.

Die Perspektive für Afghanistan – das muss man leider sagen – ist im Moment unklar. Der Frieden ist noch weit entfernt. Aber war der Einsatz deswegen falsch? – Nein, das war er nicht. Wir waren aus guten Gründen in Afghanistan, und diese Gründe sind auch heute noch richtig, werte Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Allen, die es von Anfang an immer besser gewusst haben – Herr Hampel, ich will an dieser Stelle sagen: Ihr Zynismus ist einfach nur widerlich und schwer erträglich –,

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

sage ich: Nein, das haben Sie nicht. Wer damals gegen diesen Einsatz war, war es aus ideologischen Gründen oder aus taktischen Gründen, aber nicht, weil er den Ausgang vorhergesehen hat.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Tobias Pflüger [DIE LINKE])

Ich selbst habe wie ganz viele in diesem Haus nach dem 11. September aus guten Gründen für diesen Einsatz gestimmt. Ich bin auch heute noch der Meinung, es wäre fahrlässig und unpolitisch gewesen, die USA nach dem 11. September im Antiterrorkampf allein zu lassen und als Bundesrepublik Deutschland nicht an ihrer Seite zu stehen. Das wäre unverantwortlich gewesen. Das sehe ich auch heute noch so.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Werte Kolleginnen und Kollegen, ich habe den allergrößten Respekt vor denjenigen, die in Afghanistan, in welcher Art auch immer, ihren Einsatz unter den schwierigsten Bedingungen geleistet haben. Ich will an dieser Stelle auch noch mal ganz persönlich meinen tief empfundenen Dank an Sie ausdrücken: Herzlichen Dank für das, was Sie geleistet haben.

(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Wir als politisch Verantwortliche müssen – und das ist hier diskutiert worden – aber auch die Lehren aus einem solchen Einsatz ziehen. Dazu gehört unter anderem die Einsicht, dass unsere Möglichkeiten bei allem guten Willen durchaus begrenzt sind, oder wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der Münchner Sicherheitskonferenz einmal gesagt –: Wir dürfen unsere Außenpolitik nicht mit zu viel Heilserwartung überfrachten. – Das stimmt. Das heißt aber nicht, sich herauszuhalten, wenn es schwierig wird, wenn es ernst wird. Vielmehr heißt das, klug und rational die eigenen Möglichkeiten zu kalkulieren, gemeinsam mit den Verbündeten Strategien zu entwickeln und die Ziele klug und realistisch zu setzen im Einsatz für eine bessere Welt. Dieser Einsatz ist vielleicht wichtiger als jemals zuvor; er entfällt in den kommenden Jahren nicht. Dieser Einsatz wird unter Umständen auch wieder militärische Mittel erfordern; auch davor dürfen wir uns nicht drücken. Aber eines sage ich Ihnen auch, Herr Lucassen: Jede Realpolitik, die die Bundesrepublik Deutschland macht, muss und wird auch immer wertebasierte Außenpolitik sein.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Götz Frömming [AfD]: Den nächsten Krieg vorbereiten! – Dr. Alexander Gauland [AfD]: Die nächste Pleite kommt bestimmt!)

Werte Kolleginnen und Kollegen, Afghanistan wird unsere Unterstützung auch in Zukunft brauchen. Ich bin froh, dass die Bundesregierung hier deutlich gemacht hat, wie diese Unterstützung aussehen soll.

Zum Schluss gestatten Sie mir noch ein kurzes persönliches Wort. Dies ist meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich bin das erste Mal mit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl nach der deutschen Einheit in dieses Hohe Haus gewählt worden. Ich bin stolz, dass ich diesem Hause angehören durfte und noch angehöre. In einer Gesellschaft zu leben, in der man sich nach demokratischen Regeln frei entfalten kann, das war für mich lange nur ein Traum. Die Friedliche Revolution hat es für mich möglich gemacht. Ich hatte das große Glück, hier in Berlin am runden Tisch die ersten freien Wahlen in der DDR mit verhandeln zu dürfen. Sie können sich deshalb vorstellen, was die Arbeit in diesem Parlament für mich bedeutet hat.

Ich möchte mich zum Schluss ganz herzlich bei all den großartigen Kolleginnen und Kollegen bedanken, mit denen ich zusammenarbeiten durfte. Es war mir eine Ehre.

(Anhaltender Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD und der LINKEN – Abgeordnete der SPD erheben sich)

Lieber Herr Kollege Matschie, der Beifall fast des ganzen Hauses drückt aus, welche Wertschätzung Sie sich in diesen drei Jahrzehnten nicht nur in diesem Parlament, sondern in unserem Land erworben haben. Auch wir kennen uns seit mehr als drei Jahrzehnten. Sie waren immer ein herausragender Vertreter unseres Landes, das so lange geteilt war und dann mit so großem Engagement ein gemeinsames Land, eine gemeinsame Demokratie geworden ist. Ich danke Ihnen von Herzen im Namen des ganzen Hauses und wünsche Ihnen für Ihren nächsten Lebensabschnitt alles Gute.

(Beifall)

Jetzt hat das Wort die Kollegin Gisela Manderla, CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7530152
Wahlperiode 19
Sitzung 235
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde zum geordneten Rückzug der NATO-Truppen aus Afghanistan
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