Armin Laschet - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Heute ist der 24. Juni, und an diesem Tag begann die Blockade Berlins. Das war der Angriff auf die freie Welt. Land- und Wasserverbindungen ausgehend von dieser Stadt wurden unterbrochen. Doch der Versuch, den Menschen ihre Freiheit zu nehmen, ist am Ende gescheitert. Die Luftbrücke war der Inbegriff der ausgestreckten Hand der USA, Großbritanniens, Frankreichs und weiterer Länder. Das hat gezeigt – symbolisch, exemplarisch für eine ganze Generation, auch als Lebensgefühl: Wenn liberale Demokratien zusammenarbeiten, haben Teilung und Konfrontation keine Chance.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Freundschaften und Bündnisse mit anderen Demokratien sind die Grundlage des Wohlstandes und des Erfolges unseres Landes.
Und das gilt vor allem für Europa. Zum einen deshalb, weil wir in einem Europa der 27 leistungsfähiger und wettbewerbsfähiger sind als alleine. Zum anderen glaube ich aber auch an die Stärke der europäischen Idee. Das eigentliche Herz Europas ist doch nicht Effizienz, sondern die Idee der Freiheit und der Menschenwürde. Das ist der Grund, weshalb man sich zusammengeschlossen hat.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Frank Müller-Rosentritt [FDP])
Diese Idee verbindet uns; deshalb muss dieses Europa nicht mit unbarmherziger Kälte und Härte, nicht technokratisch, sondern in einem Rahmen verantworteter Freiheit agieren.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Wo ist denn die Freiheit in Europa für die Nationalstaaten?)
Wir brauchen Europa mehr als je zuvor. Wir stehen an einem Epochenwechsel. Das haben wir gerade in der Pandemie sehr genau gemerkt. Wir sehen die große wirtschaftliche Dynamik in Asien; wir sehen China, wir sehen, dass sich das internationale Machtgefüge verändert. Um in dieser Welt zu bestehen – das ist bei Ihnen noch nicht angekommen –, ist der Nationalstaat alleine zu schwach. Deshalb brauchen wir Europa.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Claudia Roth [Augsburg] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zurufe der Abg. Norbert Kleinwächter [AfD] und Dr. Harald Weyel [AfD])
Der Klimawandel kommt hinzu als Herausforderung unserer Generation. Diese Herausforderung ist in einer globalen Welt nur gemeinsam zu bewältigen, mit europäischen Anstrengungen. Die Völkerrechtsbrüche in Europa, die Cyberangriffe, auch auf den Deutschen Bundestag, sind nur bewältigbar – das Verhältnis zu unseren Nachbarn wird auch Thema beim EU-Gipfel sein –, wenn die 27 Nationalstaaten nicht womöglich noch gegeneinander paktieren, tricksen, sondern nur dann, wenn Europa mit einer Stimme spricht und sagt: Das lassen wir uns nicht gefallen! Hier ist die europäische Position, die wir dem entgegenstellen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD])
Wir haben es doch erlebt während der Pandemie: Eine solch simple Stoffmaske, wenige Cent wert, war plötzlich nicht mehr verfügbar.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Ach, plötzlich ist das nichts mehr wert?)
In manchen Operationssälen konnte nicht mehr operiert werden, weil die simpelsten Dinge fehlten, weil wir abhängig waren von einer fremden Macht.
(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Und deshalb ist es richtig, dass der Gipfel heute danach fragt: Wie können wir autark werden? Wie können wir unsere Daseinsvorsorge selbst sicherstellen?
(Zurufe von der AfD)
Wie können wir Impfstoffe herstellen? Wie können wir in dieser Welt bestehen?
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])
Das wird Ihnen vielleicht gefallen: Stellen Sie sich doch mal eine Welt vor, in der es nur chinesische und russische Impfstoffe gibt! Wie würde das die geopolitische Situation verändern? Ich bin froh, dass wir in Europa Impfstoffe entwickelt haben und dass wir selbst in der Lage sind, die Welt zu versorgen mit dem, was Wissenschaftler und Forscher in Europa entwickelt haben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Das ist der Unterschied: dieses Selbstbewusstsein, das wir brauchen. Und deshalb schadet eine Partei, die Deutschland aus der Europäischen Union herausführen will, deutschen Interessen. Das ist das, was Ihre Politik bewirkt, und was Sie anstellen mit Ihrem Gegröle!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe der Abg. Norbert Kleinwächter [AfD] und Dr. Harald Weyel [AfD])
Die letzten Tage waren gute Tage, weil die Vereinigten Staaten zurückkehren zu multilateralen Lösungen, weil die Vereinigten Staaten in Richtung Europa sagen: Wir als liberale Demokratien wollen in dieser Welt gemeinsam agieren. – Jetzt müssen wir Europäer aber auch in der Lage sein, selbst unsere Stärken zu entwickeln, selbst so stark zu werden, dass wir da handlungsfähig sind.
Das sind wir nicht in allem. Es ist eine große Leistung gewesen, den Wiederaufbaufonds Europas mit 750 Milliarden Euro zu starten. Das ist ein Systembruch: Zum ersten Mal nimmt Europa gemeinsame Anleihen auf, um eine große Aufgabe zu bewältigen.
(Zuruf des Abg. Norbert Kleinwächter [AfD])
Aber auch hier ist die Erkenntnis: Deutschland wird nur stark, wenn der Binnenmarkt wieder funktioniert, wenn die anderen auch stark sind.
(Zuruf von der AfD: Deutschland stark?)
Und da, Christian Lindner, bin ich nicht sicher, ob ein Europa bei den vier, die sich lange gesträubt haben, die lange den Taschenrechner als Konzept hatten und nicht die europäische Vision, in dieser Lage in guten Händen gewesen wäre.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Eine Vision?)
Es ist gut, dass Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Macron vorangegangen sind und am Ende die anderen auch überzeugt haben. Das ist besser, als wenn die vier vorangegangen und die anderen den vier gefolgt wären. Das war der richtige Weg, und das ist der Weg, den wir auch in der Zukunft brauchen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
„Mediterrane Finanzpolitik“ ist keine finanzpolitische Kategorie. Es hilft dem Kontinent nicht, mit solchen Adjektiven europäische Finanzpolitik zu bezeichnen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ein Zweites: Ich bin der festen Überzeugung, wir brauchen eine umfassende Digital- und Datenunion. Das ist nicht nur die Besteuerung von Unternehmen, Herr Bundesfinanzminister. Das ist ein wichtiger Schritt, den man da erreicht hat, aber wir müssen auch das beste Umfeld für die Unternehmen schaffen, damit der nächste digitale Champion aus Europa kommt. Die Wettbewerbsfähigkeit wieder zum Maßstab europäischer Politik zu machen, wie es die Lissabon-Strategie einmal benannt hat,
(Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD])
das ist etwas, das ein wenig zu kurz gekommen ist und wo wir wieder anknüpfen müssen, auch in den europäischen Prozessen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Die Blockade in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik muss ein Ende finden. Auch da schätze ich es als wichtig ein, dass sich der Europäische Rat heute mit Russland und mit der Türkei beschäftigt. Es ist wichtig, dass das Migrationsabkommen mit der Türkei verlängert wird, dass man diesen Weg geht, gemeinsame Lösungen zu finden mit denen, die unsere Nachbarn sind rund um das Mittelmeer.
Wir brauchen mehr Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik. Wir brauchen flexible Koalitionen der Gestaltungswilligen, sonst bleiben wir nur auf der Zuschauertribüne. Das hat immer zwei Seiten. Wenn man sagt: „Ja, wir brauchen mehr Europa, mehr Außen- und Sicherheitspolitik“, dann werden viele bei SPD und Grünen sagen: Ja, stimmt; mehr Europa, weniger Nationalstaat. – Wenn man dann aber europäisch etwas verabredet, ein Sicherheitsprojekt durchführt, die Idee einer europäischen Drohne und nicht einer nationalen Drohne entwickelt, dann darf man danach nicht im Klein-Klein der Innenpolitik wieder sagen: Dieses und jenes wollen wir jetzt aber doch nicht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Wenn wir Europa wollen, dann müssen wir gemeinsam Verantwortung übernehmen und solche Projekte dann auch gemeinsam durchziehen, wenn es nötig ist.
Lassen Sie mich eine letzte Bemerkung machen: Frau Bundeskanzlerin hat erwähnt, dass man heute beim Europäischen Rat auch Konsequenzen für den Binnenmarkt und für das Schengen-System erörtern will. Wir haben erlebt, dass dann, wenn eine Krise kommt, wenn eine neue Situation eintritt, immer noch der alte nationalstaatliche Reflex greift.
(Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD])
Man glaubte ernsthaft, man könne ein Virus bekämpfen mit dem Schließen von Grenzen, mit Schlagbäumen, mit Zollbeamten. An den Grenzen, wo das geschehen ist, waren die Menschen dort aber schon längst weiter. Sie haben nicht verstanden, warum man nicht von Straßburg aus über die Europabrücke nach Kehl fahren darf, wenn man einen guten Grund dafür hat. Das war ein Fehler.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Das war doch Ihre Willkür! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Herr Söder! Das war Herr Söder!)
– Es war nicht nur Herr Söder; es war auch Herr Kretschmann, und es waren noch ein paar mehr. Wir alle haben gelernt aus dieser ersten Situation.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Wir haben gelernt. Die nordrhein-westfälisch-niederländische und die nordrhein-westfälisch-belgische Grenze war übrigens die ganze Zeit über offen.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)
Wir haben gekämpft dafür, dass diese Grenze offen bleibt, und haben dann einen Mechanismus entwickelt: Wir haben mit den Partnern jenseits der Grenze gemeinsam eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe gegründet, die dreimal die Woche getagt und uns informiert hat – die Gesundheitsämter und alle, die verantwortlich sind –, um so gemeinsam auf die Krise zu reagieren. In der zweiten und dritten Welle war das dann Konsens.
Und das muss eine Lehre sein: Wir dürfen diesen Binnenmarkt nicht wieder durch Grenzschließungen zerstören.
(Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD])
Der Gipfel wird sich damit beschäftigen, wie der Binnenmarkt wieder konsequent hergestellt wird.
(Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD])
Europa ist nicht nur ein politischer Prozess. Es ist nicht nur ein politischer Prozess, sondern es ist eine Lebenseinstellung.
(Beatrix von Storch [AfD]: Genau!)
Weder von einem tödlichen Virus noch von antieuropäischer Häme und Skepsis und erst recht nicht von Populisten und Nationalisten lassen wir uns dieses Europa kaputt machen!
(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der AfD)
Das ist die Ansage an Sie und an alle, die das vorhaben.
(Langanhaltender Beifall bei der CDU/CSU)
Jetzt hat das Wort der Fraktionsvorsitzende der Fraktion Die Linke, Dr. Dietmar Bartsch.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7530597 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 236 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |