Martin SchulzSPD - Regierungserklärung zum Europäischen Rat
Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Pandemie hat uns herausgefordert. Sie hat den Geist der Solidarität zwischen den Staaten und den inneren Zusammenhalt unserer Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt. Querulanten und Verschwörungserzähler haben alles getan, um uns auseinanderzutreiben.
Der Europäische Rat, zu dem Sie heute fahren, Frau Merkel, tritt an einem Tag zusammen, an dem die bundesweite Inzidenz bei 6,6 liegt, in ganz Europa Einschränkungen zurückgenommen werden und Impfkampagnen laufen. Das repräsentiert eine Botschaft: Europa hat zusammengehalten. Es ist nicht gelungen, uns auseinanderzutreiben. Wenn die anderthalb Jahre, die hinter uns liegen, eine Schlussfolgerung zulassen, dann diese: Einigkeit macht stark.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Das ist der Geist, in dem Europa gestaltet werden muss. Viel hängt davon ab. Schon vor vier Jahren haben wir als Sozialdemokraten im Koalitionsvertrag durchsetzen können, dass zum ersten Mal in einem deutschen Regierungsprogramm Europa an erster Stelle stand. Denn Europa, meine Damen und Herren, verdient es, dass seine Stärkung höchste deutsche Regierungspriorität ist. Und diese Regierung hat Europa gestärkt.
Für die Stärkung der Europäischen Union stehen zwei Projekte in besonderer Weise. Das erste Projekt ist, dass die EU über den Wiederaufbaufonds endlich autonom Gelder an den Finanzmärkten aufnehmen kann.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Vertragswidrig!)
In diesen Tagen fällt überall in Europa der Startschuss für milliardenschwere Investitions- und Reformprojekte. Was ist das für ein Kontrast zu der Zeit vor zehn Jahren, als Besuch aus Brüssel vor allen Dingen Kürzungen bei Renten und Sozialleistungen bedeutete? Und was machen wir jetzt? Statt für Arbeitslosigkeit und Austerität wie damals steht Europa jetzt für Mut, Aufbau und Aufbruch. Das ist das Europa, das wir wollen.
(Beifall bei der SPD – Zuruf von der AfD: Es steht nur noch für finanzielle Umverteilung, Herr Schulz! Für Gelddrucken!)
Das zweite Projekt: Google, Amazon, Facebook und Apple zahlen endlich in Zukunft Steuern, auch hier in Deutschland, dank der globalen Mindestbesteuerung von 15 Prozent, die die G 7 jetzt anstreben. Das ist ein Schritt zu konkret mehr Gerechtigkeit. Ich halte das für einen der größten Erfolge in der internationalen Politik der letzten Jahre. Neben dem Wiederaufbaufonds ist das ein großer Erfolg deutscher Europapolitik, und er trägt die Handschrift des Bundesfinanzministers der Bundesrepublik Deutschland, Olaf Scholz.
(Beifall bei der SPD)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren, ich bin froh, dass ich helfen konnte, all das und vieles mehr mit auf den Weg zu bringen. Das ist jetzt hier meine letzte Rede in einem Parlament nach insgesamt 27 Jahren als Parlamentarier: 23 Jahre im Europäischen Parlament und 4 hier im Deutschen Bundestag. Der größte Teil meiner parlamentarischen Arbeit galt der festen Verankerung Deutschlands in Europa und der Stärkung Europas durch Deutschland, weil ich zutiefst davon überzeugt bin – auch als ein Kind meiner Generation –, dass ein starkes Europa, ein einiges, ökonomisch, sozial und kulturell erfolgreich zusammenarbeitendes Europa die beste Grundlage für eine sichere Zukunft in Frieden und Wohlstand für die nächsten Generationen auf dem gesamten Kontinent ist.
(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/CSU])
Geografisch gesehen liegt Deutschland in der Mitte dieses Kontinents, von neun Nachbarländern umgeben, von denen heute keines mehr Angst vor Deutschland hat und auch nicht haben muss. Bezogen auf die über tausendjährige Geschichte unserer Nation ist das vielleicht der größte Erfolg.
(Beifall bei der SPD)
In diesem Bewusstsein, meine Damen und Herren, habe ich als Abgeordneter gearbeitet. Ich finde, Vertreter der Bürgerinnen und Bürger zu sein, ist die höchste Ehre, die einem in einem republikanischen Staat zuteilwerden kann.
(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt!)
Für dieses einzigartige Privileg bin ich den Wählerinnen und Wählern zutiefst zu Dank verpflichtet. Dankbar bin ich auch all denjenigen, denen ich hier im Hause begegnet bin und mit denen ich zusammenarbeiten durfte.
Neben den Erfolgen, die wir erzielen konnten, neben den Herausforderungen der Coronakrise hat uns jedoch in dieser Legislaturperiode ein Phänomen in außergewöhnlicher Form bewegt: Das ist die neue Gewalt des rechtsextremistischen Terrors. Der feige Mord an Walter Lübcke, der schändliche Anschlag in Halle, die verabscheuungswürdigen Attentate in Hanau – die Atmosphäre von enthemmter Sprache und aggressiver Intoleranz, die zu solchen Taten führt, hat in dieser Wahlperiode auch Einzug in dieses Haus gehalten.
(Zuruf von der AfD: Schämen Sie sich!)
Ich wünsche mir, dass alle Demokratinnen und Demokraten auch im nächsten Deutschen Bundestag wieder eine Brandmauer gegen den Hass errichten, dass kein Tabubruch geduldet wird, dass die Grenze des Sagbaren nicht jeden Tag weiter verschoben wird.
Ich für meine Person werde mich bemühen, mich an anderer Stelle, wo ich weiterarbeiten werde, genau dafür einzusetzen: für eine klare Haltung gegen rechts, für eine gerechte Gesellschaft, für Vielfalt, für Respekt und Toleranz und vor allen Dingen für ein starkes, ein friedliches, soziales und demokratisches Europa.
Vielen Dank.
(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Die Abgeordneten der SPD erheben sich)
Lieber Kollege Martin Schulz, ich danke auch Ihnen für die Jahrzehnte Ihres Einsatzes für freiheitliche parlamentarische Demokratie in unserem Land und vor allem in Europa. Wir wünschen Ihnen für neue Aufgaben, für Ihren weiteren Lebensweg, für Ihr weiteres Engagement, vor allem für Europa, alles Gute.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Martin Schulz [SPD]: Vielen Dank!)
Jetzt erteile ich das Wort der Abgeordneten Dr. Frauke Petry.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7530601 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 236 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Europäischen Rat |