Benjamin StrasserFDP - Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor allem: Liebe Opfer und Hinterbliebenen, es ist eine große Ehre für uns, dass Sie heute hier sind und der Debatte folgen. Vielen Dank dafür!
Unsere Arbeit startete vor drei Jahren mit einem großen Versprechen der Frau Bundeskanzlerin, nämlich mit einem Versprechen der detaillierten und umfassenden Aufklärung. Herr Innenminister, Sie hatten dieses Versprechen nach der Hälfte der Arbeit dieses Untersuchungsausschusses mit Ihrer Forderung nach maximaler Transparenz erneuert. Das, was Sie wissen, sollte auch dieser Untersuchungsausschuss wissen – das waren Ihre Worte. Was wir allerdings im Untersuchungsausschuss seitens der Bundesregierung erlebt haben, war eine Aufklärung mit angezogener Handbremse: Akten, die massiv geschwärzt wurden, Seitenteile, die entnommen wurden, Akten, die zu spät oder gar nicht geliefert wurden, wichtige Zeugen wie der V-Mann-Führer der Berliner Fussilet-Moschee, der uns bis heute vorenthalten worden ist. Diese Verweigerungshaltung der Bundesregierung hat dazu geführt, dass wir eben nicht alle Steine umdrehen konnten, die wir hätten umdrehen sollen, und das ist auch eine bittere Bilanz dieses Untersuchungsausschusses.
(Beifall bei der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Udo Theodor Hemmelgarn [AfD])
Was aber unsere Arbeit ans Licht gebracht hat, wirft fundamentale Fragen an die Organisation unserer inneren Sicherheit in Deutschland auf. Im Zusammenhang mit dem Anschlag vom Breitscheidplatz scheiterten eben nicht Einzelne; es scheiterte eine Struktur. Deswegen ist die Einführung des Staatstrojaners oder die Forderung nach pauschaler personeller Aufstockung von Sicherheitsbehörden eben nicht die richtige Antwort auf den Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz. Nach dem NSU-Skandal, nach diesem Anschlag müssen wir uns endlich diesem systemischen Versagen widmen und dieses systemische Versagen in den Strukturen beheben, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wir haben in Deutschland 40 Sicherheitsbehörden, die teilweise – das zeigt sich, wenn wir auf die Länder blicken – viel zu klein sind, um die Aufgaben, die sie erledigen sollen, überhaupt noch zu stemmen.
Ein schillerndes Beispiel aus unserer Untersuchungsausschussarbeit war der Verfassungsschutz in Mecklenburg-Vorpommern mit seinen 70 Mitarbeitern, wo über Jahre hinweg in mehreren Fällen sich nicht an geltendes Recht gehalten worden ist, wo nach dem Anschlag ein Hinweis auf mögliche Hintermänner, Unterstützer von Anis Amri entgegen einer gesetzlichen Verpflichtung nicht an die Polizeibehörden weitergegeben worden ist, wo Polizeiarbeit hintertrieben wurde, wo Ministerien und Parlamente nichts davon mitbekommen haben. Ein solches Eigenleben von Verfassungsschutzbehörden können wir nicht tolerieren. Deswegen müssen wir hier gesetzgeberisch tätig werden und die parlamentarische Nachrichtendienstkontrolle nachschärfen. Das ist ein wesentlicher Baustein unserer Erkenntnisse. Wir haben ja mit der Einsetzung eines Nachrichtendienstbeauftragten einen konkreten Vorschlag gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Strukturelle Defizite haben sich aber auch bei der Führung von Vertrauenspersonen, also Spitzeln aus extremistischen Szenen, gezeigt: 40 Spitzel von sieben Sicherheitsbehörden beim NSU, die zehn Jahre lang nichts gewusst haben wollen, acht Spitzel bei Anis Amri, die über eineinhalb Jahre nichts gewusst haben wollen, eine VP01, die als einzige Hinweise geliefert hat, die man in den Sicherheitsbehörden großenteils gar nicht ernst genommen hat, eine Vertrauensperson, die man über 15 Jahre hinweg alimentiert hat, bei der man Straftaten geduldet hat. Wer Vertrauenspersonen will – und ich will sie –, der muss doch jetzt zu dem Schluss kommen, dass eine gesetzliche Grundlage für Vertrauenspersonen gerade im Bereich der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr notwendig ist. Und auch das ist ein Ergebnis unserer Untersuchungsausschussarbeit, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Man könnte hier noch viel zum Thema der Analysefähigkeit von Sicherheitsbehörden sagen. Und da komme ich zu anderen Einschätzungen als Herr Felgentreu, was das Thema „unislamisches Verhalten“ und „How to Survive in the West“ angeht. Es zeigt sich, dass das Fachwissen in Deutschland sehr unterschiedlich verteilt ist und dies ein ganz klarer Fehler war oder dass man Chats des Attentäters – verschlüsselte Telegram-Chats, die man hatte – überhaupt nicht ausgewertet hat. Das ist ein Problem in der Struktur. Deswegen müssen wir auch Strukturen angehen.
Ich möchte aber die letzte Minute meiner Rede Ihnen widmen, den Opfern und Hinterbliebenen. Was Sie uns nach dem Anschlag berichtet haben, wie es Ihnen ergangen ist, das ist wirklich beschämend. Ich glaube, dass wir in Deutschland immer noch nicht optimal auf terroristische Anschläge vorbereitet sind, was einen mitfühlenden, einen respektvollen, vor allem einen unterstützenden Umgang mit Ihnen, den Opfern und Hinterbliebenen, angeht. Ich glaube nicht, dass Opferbeauftragte allein ausreichen. Wir brauchen eine echte Ombudsstelle, die auch über die Jahre hinweg Ansprechpartner ist, die Hilfe dabei leistet, finanzielle Ansprüche geltend zu machen. Deswegen schlagen wir unter anderem vor, die bereits existierende Koordinierungsstelle für den Opferschutz, NOAH, auszubauen, gerade auch im Hinblick auf terroristische Anschläge in Deutschland.
Ein zweiter Punkt, der mir wichtig ist: Sie sind nach diesem Anschlag nicht vergessen. Andere Länder wie Spanien und Frankreich haben einen besseren Umgang mit Opfern. Der 11. März ist der Europäische Gedenktag für die Opfer des Terrorismus. Ich finde, es würde uns gut anstehen, wenn wir diesen Tag, den 11. März, auch hier in Deutschland zu einem nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt machten. Egal ob die Opfer des NSU, egal ob die Opfer von Istanbul, egal ob die Opfer vom Breitscheidplatz – wir werden sie nicht vergessen, auch nach dem Ende dieses Untersuchungsausschusses nicht.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Wir haben nach dem NSU die Chance auf strukturelle Reformen verpasst. Eine Zusage der Bundesregierung ist aber noch offen. Herr Seehofer, Sie hatten gesagt, Sie werden sich ganz genau anschauen, was dieser Untersuchungsausschuss in seinem Abschlussbericht ausführt, und entsprechend handeln. Jetzt liegt es an Ihrem Nachfolger oder Ihrer Nachfolgerin, strukturelle Konsequenzen zu ziehen.
Ich sage dieser Bundesregierung und der kommenden zu: Wenn es um eine echte Reform der föderalen Sicherheitsarchitektur geht, wenn es um mehr parlamentarische Kontrolle geht, wenn es um einen besseren Opferschutz geht, haben Sie die Unterstützung der Freien Demokraten. Und ich würde mich freuen, wenn wir die Lehren aus diesem Anschlag dann auch tatsächlich ziehen.
Vielen herzlichen Dank.
(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD])
Vielen Dank, Benjamin Strasser. – Nächste Rednerin: für die Fraktion Die Linke Martina Renner.
(Beifall bei der LINKEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 236 |
Tagesordnungspunkt | Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat |