24.06.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 236 / Tagesordnungspunkt 10

Volker UllrichCDU/CSU - Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat

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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dass Sie als Angehörige der Opfer heute auf der Ehrentribüne Platz genommen haben, ist für uns eine Ehre. Wir können Ihnen so deutlich machen, wofür wir in vielen Hundert Stunden gearbeitet haben: dafür, Antworten zu finden auf Ihre berechtigten Fragen, für das Anliegen, aufzuklären, dafür, dass der Staat nicht ruhen darf, bis alle offenen Fragen geklärt sind. Das macht nichts ungeschehen und ist kein Trost. Aber nehmen Sie uns ab, dass wir stellvertretend für das gesamte Hohe Haus nicht ruhen wollten, bis wichtige Fragen geklärt und die entscheidenden Konsequenzen daraus gezogen worden sind.

Das Erste, was uns umgetrieben hat, war der Umgang mit den Angehörigen der Opfer. Dieser war völlig indiskutabel, ja würdelos. Wenn es keine Ansprechpartner, keine Informationen gab und wenn manche Angehörige als Allererstes vom Staat Rechnungen für gerichtsmedizinische Untersuchungen bekommen haben, dann ist das etwas, was uns heute noch beschämen muss. Auch dafür bitte ich um Vergebung.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der AfD)

Aber es sind auch Lehren daraus gezogen worden. Nicht nur die Einrichtung des Amtes eines Opferbeauftragten oder die Reform des Sozialen Entschädigungsrechts, sondern auch die Einführung des Amtes eines Opferstaatsanwalts zeigen: Der Staat darf künftig Opfer nicht alleinlassen. Der Opferschutz muss im Mittelpunkt der Politik stehen.

Eine Frage, die sich bei dieser Debatte natürlich stellt und auch während der vielen Hundert Stunden gestellt hat, ist: Ist diese Tat zu verhindern gewesen? Auf diese hypothetische Frage gibt es keine abschließende Gewissheit. Aber es drängt sich auf, dass zahlreiche Fehler und Fehleinschätzungen in den Strukturen, aber auch auf ganz persönlicher Ebene es letztlich ermöglicht haben, dass es zu dieser Tat kommen konnte, ohne dass es einen einzigen Verantwortlichen gab.

Es beginnt mit der Einreise. Der Attentäter war bereits in Italien wegen einer schweren Gewalttat vorbestraft. Nur war das niemandem bekannt, weil diese Information nicht in den Datensystemen eingespeist war. Dieser Ausschuss hat offengelegt, dass wir im Schengen-Raum, in Europa einen besseren Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden brauchen. Diese Forderung ist in den letzten Jahren bereits erfüllt worden. Das bitte ich zur Kenntnis zu nehmen.

Aber wichtig ist auch, festzuhalten, dass weitere aufenthaltsbeendigende Maßnahmen nicht durchgeführt worden sind, auch wenn das das damals bereits geltende Recht hergab. Es geht also nicht nur darum, den rechtlichen Rahmen zu schaffen, sondern auch darum, dafür zu sorgen, dass das geltende Recht auch angewandt wird. Nichtsdestotrotz haben wir weitere Verbesserungen geschaffen über Datenaustausch bis hin zum neuen Ausländerzentralregister, damit die Ausländerbehörden bei aufenthaltsbeendigenden Maßnahmen stärker von ihren Befugnissen Gebrauch machen und wir Gefährder schneller außer Landes bringen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir müssen auch feststellen, dass die Gefährlichkeit des Attentäters offenkundig war. Die islamistische Gesinnung war bekannt. Eine der größten Fehleinschätzungen war, dass man angenommen hat, er sei wegen des Drogenhandels kein potenzieller Terrorist mehr. Deswegen wurde im Herbst 2016 die Überwachung auch beendet – eine fatale Entscheidung. Er war fast ein Dutzend Mal Thema im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum.

Die Frage ist: Sind Lehren daraus gezogen worden? Die Antwort ist: Ja. Die Organisation des Gemeinsamen Terrorabwehrzentrums ist verbessert worden, die Berichtspflicht ist intensiver, die Protokolle sind deutlicher. Aber auch bei der Bewertung von Gefährdern sind neue Ansätze geschaffen worden. Bis zu diesem Anschlag gab es nur eine personenbezogene Bewertung. Dies hat im Ergebnis zu dieser Fehleinschätzung geführt. Jetzt werden Gefährder nicht mit neun, sondern mit 73 Merkmalen bewertet, wo auch das Umfeld mit einbezogen wird. Mit RADAR-iTE hat man ein besseres System geschaffen, um Gefährder zu überwachen und sie auf dem Schirm zu haben. Ich glaube, das ist auch eine wichtige Erkenntnis, die bereits umgesetzt ist.

Aber die Frage bleibt: Warum ist der Attentäter nicht in Haft genommen worden? Es gab verschiedene Delikte: Körperverletzung, Drogenhandel, Betrug. Ja, vielleicht war jedes Delikt für sich alleine genommen zu wenig, vielleicht lagen falsche Einschätzungen vor. Aber mittlerweile ist durch das System der Sammelverfahren ein Instrument auf justizieller Ebene geschaffen worden, dass Verfahren gebündelt werden können und dass bei Vorliegen von solchen Straftaten eine Untersuchungshaft und eine Aburteilung möglich erscheinen. Auch das hat sich durch diesen Untersuchungsausschuss geändert.

Was ist noch wichtig? Ich glaube, wir müssen uns insgesamt nach wie vor der Bedrohung stellen. Wir müssen gewahr werden, dass die Bedrohungen für diesen freiheitlichen Rechtsstaat durch Extremisten jeder Art stark sind, dass sie groß sind. Rechtsextremismus, Linksextremismus, aber auch der Dschihadismus, der islamistische Extremismus, sind eine Gefahr. Dem müssen wir begegnen durch Kompetenz und durch Personal. Deswegen freut es mich, dass es uns in den letzten Jahren gemeinsam gelungen ist, in den Sicherheitsbehörden mehr Personalstellen zu schaffen. Aber mehr Personal allein reicht nicht aus. Wir brauchen die entsprechenden rechtlichen Kompetenzen und Befugnisse. Wir brauchen auch einen Verfassungsschutz, der diese Strukturen in den Blick nimmt und die entsprechenden rechtlichen Möglichkeiten hat.

Aber es geht auch um Prävention und Deradikalisierung. Kein Mensch wird als Islamist geboren. Menschen werden dazu, sie werden verführt und radikalisiert. Auch das muss der Staat angehen, damit niemand zu einem Gefährder wird.

Insgesamt ist zu sagen, dass die Arbeit in diesem Untersuchungsausschuss von einem großen kollegialen Miteinander geprägt war, von der gemeinsamen Überzeugung, Antworten zu finden und Antworten zu liefern. Das sind wir unserer gemeinsamen Überzeugung schuldig, aber vor allen Dingen auch den Opfern und ihren Angehörigen. Ihnen gehört heute noch einmal unsere Anteilnahme.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie des Abg. Andreas Wagner [DIE LINKE])

Vielen Dank, Dr. Volker Ullrich. – Nächster Redner: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Dr. Konstantin von Notz.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7530634
Wahlperiode 19
Sitzung 236
Tagesordnungspunkt Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat
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