Mahmut ÖzdemirSPD - Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Hinterbliebene, die Sie Todesopfer beklagen! Sehr geehrte Damen und Herren, die Sie Verletzungen an Leib und Seele davongetragen haben! So wie Ihr Verlust, Ihre Verletzung Teil Ihres Lebens ist, so ist dieser Anschlag Teil der Staatsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und auch Teil unseres Lebens geworden, die wir im parlamentarischen Untersuchungsausschuss gemeinsam – bis auf vielleicht eine Ausnahme – mit dem Anspruch auf Würde der Opfer diese Bürde der Aufklärung verfolgt haben.
Ihre Verluste, Ihre Verletzungen sind tiefe Wunden. 12 ermordete Menschen, über 170 Verletzte rissen eine mindestens genauso tiefe Wunde in die Seele der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dieses Landes. Menschen, die bei unseren Sicherheitsbehörden, in Ministerien und in Parlamenten in Verantwortung stehen, tragen ebenso Wunden davon, nämlich die Wunden aus der Verantwortung dafür, dass so ein Anschlag auf deutschem Boden geschehen konnte. Für diejenigen, die den Verlust eines Menschen beklagen, wird diese Wunde nie heilen. Die verletzten Überlebenden werden versuchen, die Wunden zu schließen, sodass sich die Schmerzen mit der Zeit lindern.
Jeden Donnerstag in Sitzungswochen haben wir in diesem Untersuchungsausschuss über drei Jahre versucht, durch Aufklärung zur Linderung beizutragen: Aufklärung dessen, was passierte, als ein sittlich verkommener 24-jähriger Terrorist geliebte Menschen in den Tod riss und Menschen verletzte. Linderung beginnt auch da, wo man Dinge offen und ehrlich aus- und anspricht.
Erstens. Unsere Balance von Freiheit und Sicherheit stimmte nicht. Das Sicherheitsversprechen unseres Staates war löchrig. So konnte dieser Anschlag geschehen. Sicherheitsbehörden – unsere Sicherheitsbehörden – waren überfordert, weil sie zu wenig Personal hatten – ein Umstand, den wir in dieser Wahlperiode und in der letzten Wahlperiode mühsam verändert haben.
Zweitens. Wir können und dürfen Menschen mit ungeklärten Identitäten nicht frei in unserem Land herumlaufen lassen. Anis Amri hatte Alias-Identitäten in zweistelliger Höhe. Wenn Zweifel an der Identität eines Ausländers bestehen oder jemand nicht mitwirkt oder gar betrügt, dann gehört er in staatlichen Gewahrsam, bis seine Identität festgestellt werden konnte.
(Zuruf von der AfD: Oh!)
Das BAMF müssen wir zu einer Identitätsfeststellungsbehörde und zu einer Identitätsfeststellungsgewahrsamsbehörde weiterentwickeln.
(Beifall des Abg. Dr. Fritz Felgentreu [SPD])
Drittens. Die Zuständigkeit von Sicherheitsbehörden ist ein weiteres Thema. Der Attentäter war ein hochmobiler Gefährder. Er durchquerte NRW, Berlin, Baden-Württemberg, Niedersachsen. Zahlreiche kleine Delikte, die für sich genommen keine besondere Relevanz hatten, hätten in ihrer Summe und in ihrer Bündelung für ein Einsperren sorgen können. Die Karikatur dessen ist, dass beispielsweise Nordrhein-Westfalen sagte: „Da kommt eine gefährliche Person“, und auf der anderen Seite konnte man, während sich diese Person schon bewegte, nicht angemessen reagieren. Während der Attentäter Ländergrenzen innerhalb der Bundesrepublik übertrat, konnten wir die Grenzen des Föderalismus nicht überwinden. Auch das gehört zur Wahrheit.
Viele Enden haben wir zusammengebunden. Ein besonderer Vorfall lässt mir keine Ruhe: Der Generalbundesanwalt lädt streitende Behörden wie das LKA NRW und das Bundeskriminalamt zu einem klärenden Gespräch über die besondere Einstufung dieses Attentäters ein, um eine einvernehmliche Arbeitsgrundlage schaffen zu können. Das muss man sich vorstellen: Da werden gestandene Beamtinnen und Beamte beim Generalbundesanwalt – in Anführungsstrichen – „vorgeladen“, und dann menschelt es. Unbescholtene, tüchtige Beamte, die sich nie etwas zuschulden haben kommen lassen, haben eine Eins-zu-eins-Situation, in der der eine dem anderen sagt: „Unsere Quelle ist exzellent. Wir müssen da weiterermitteln“, und der andere sagt: „Nein, diese Quelle macht zu viel Arbeit. Sie muss kaputtgeschrieben werden.“ – Das ist eine Situation, die mich umtreibt, die mir teilweise abends vor dem Schlafengehen oder dann, wenn ich aus dem Ausschuss gekommen bin, keine Ruhe gelassen hat. Hätten wir an dieser Stelle vielleicht in Sachen Einstufung des Attentäters für die Verhinderung des Anschlages den entsprechenden Wendepunkt setzen können?
Viele Enden haben wir zusammengebunden, einige Fragen sind offen geblieben. Die abstrakten Fragen sind hier offen angesprochen worden. Nicht alles haben wir auch im Lichte der Öffentlichkeit besprechen können. Das hat teilweise damit zu tun, dass sich die Bundesregierung auf Nichtöffentlichkeit, Vertraulichkeit und Geheimhaltung zurückgezogen hat. Das empfinde zumindest ich als Auftrag an uns, den Gesetzgeber. Die Bundesregierung hat uns gezeigt, dass wir Gesetze ändern müssen, um genau in den Schatten der Nichtöffentlichkeit zu gucken, wohin sie sich zurückgezogen hat. Sie wird weiter versuchen, sich zurückzuziehen, wenn wir die Gesetze nicht auf den Prüfstand stellen und gegebenenfalls verändern.
Der Täter muss mit der Tat nicht mehr leben, er hat es hinter sich – wir schon: Angehörige, Verletzte, Staatsdienerinnen und Staatsdiener mit dem Makel, Bürgerinnen und Bürger sowie Gäste der Bundesrepublik Deutschland nicht geschützt zu haben und nicht schützen zu können. Vergeben Sie uns als Staatsdienerinnen und Staatsdiener, damit wir uns selber vergeben können, um dem Versprechen zu dienen, dass sich so ein Anschlag nie wieder in vergleichbarer Weise ereignet, nicht in Deutschland, nicht in Europa und durch gute Zusammenarbeit auch nicht woanders in der Welt.
Ich danke in aller Demut für Ihre Aufmerksamkeit, den Opfern und Hinterbliebenen für ihre Anwesenheit. Es war mir eine persönliche Ehre, gemeinsam mit allen Abgeordneten des Untersuchungsausschusses an der Aufklärung zu arbeiten. Wir haben geeifert, wir haben gestritten. Wir haben aber immer – bis auf eine Ausnahme – das gleiche Ziel verfolgt, allerdings mit verschiedenen Prioritätensetzungen. Darauf bin ich stolz. Es ist mir eine Ehre. Ich hoffe, dass wir Ihrem Anspruch, Ihrer Würde im Umgang mit dieser Bürde gerecht geworden sind.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der LINKEN)
Vielen Dank, Mahmut Özdemir. – Der letzte Redner in dieser Debatte: Alexander Throm für die CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Mahmut Özdemir [Duisburg] [SPD])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7530636 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 236 |
Tagesordnungspunkt | Bericht 1.UA - Breitscheid-Platz-Attentat |