25.08.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 238 / Tagesordnungspunkt 1

Christian LindnerFDP - Regierungserklärung der BKn zur Lage in Afghanistan, Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bilder, die uns aus Afghanistan erreichen, sind erschütternd; sie sind schmerzhaft. Menschen riskieren alles, um sich über den einzig verbliebenen Weg in Freiheit und Sicherheit zu bringen. Wie grenzenlos muss die Angst, wie grenzenlos muss die Verzweiflung sein, wenn eine Mutter oder ein Vater das eigene Kind über eine Mauer in die Hand eines fremden Soldaten gibt, völlig im Ungewissen, was danach passiert? Wir müssen Ursache und Wirkung der Ereignisse analysieren, die politische Verantwortung muss zugeordnet werden, und personelle Konsequenzen müssen folgen. Aber heute ist dafür nicht die Gelegenheit.

Die internationale Gemeinschaft hat eine humanitäre Verantwortung und moralische Verpflichtung, den Menschen zu helfen. Jetzt steht die Linderung von Leid im Zentrum, und dafür hat die Bundesregierung die volle Unterstützung der Fraktion der Freien Demokraten.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Auch unsere Gedanken sind bei den mutigen Soldatinnen und Soldaten sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Auswärtigen Dienstes, die in dieser Stunde in Kabul unter Einsatz ihres Lebens Menschen retten. Wir wünschen ihnen bei diesem heldenhaften Einsatz viel Erfolg und eine gesunde Heimkehr.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Menschen in Afghanistan brauchen schnelle Hilfe. Wir müssen großzügige und pragmatische Lösungen für diejenigen finden, die unserer Bundeswehr und den Hilfsorganisationen loyal zur Seite gestanden haben, und auch die besonders gefährdeten Gruppen wie Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen, auch Journalisten müssen in Sicherheit gebracht werden. Deutsche Bürokratie darf hier kein Menschenleben fordern.

(Beifall bei der FDP)

Die Machtergreifung der Taliban lässt zudem eine Fluchtbewegung befürchten, die durch eine drohende Hungerkatastrophe verschärft wird. 14 Millionen Afghaninnen und Afghanen sind vom Hunger bedroht. Diese humanitäre Katastrophe müssen wir verhindern, indem wir die internationalen Organisationen stärken. Es war geplant, die Entwicklungszusammenarbeit mit Nachbarstaaten wie Tadschikistan einzuschränken. Auch dieses Vorhaben offenbart eine unzureichende Lageeinschätzung in der Region.

(Zuruf des Abg. Markus Frohnmaier [AfD])

Es wäre ein Fehler, jetzt in der Nachbarschaft Afghanistans nicht zu helfen.

(Beifall bei der FDP)

In diesen Staaten müssen Flüchtlinge unter menschenwürdigen Bedingungen Schutz finden. Wir müssen dazu auch die Mittel des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen stärken. Dieser Verantwortung darf sich niemand entziehen – auch nicht die Vereinigten Staaten, die geografisch weit entfernt sind, politisch aber unmittelbar Verantwortung zu tragen haben.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Dimension der Aufgabe und ihre Dringlichkeit sind Anlass für eine gemeinsame europäische Afghanistan-Politik. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben dazu Andeutungen gemacht, die uns aber noch nicht ausreichen. Wir bitten Sie herzlich, dass von Ihrer Regierung ausgehend umgehend die Initiative ergriffen wird für einen EU-Sondergipfel der Regierungschefinnen und ‑chefs. Wir stellen das in einem Antrag auch zur Abstimmung und werben um Zustimmung. Denn: Humanität heißt nicht, Flüchtende auf den gefährlichen Weg nach Europa zu zwingen; Humanität heißt, ihnen so schnell wie möglich und der Heimat so nah wie möglich Sicherheit zu bieten. Das ist eine europäische Aufgabe.

(Beifall bei der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Erfolg der Evakuierungsmission liegt nun beklagenswerterweise in den Händen der Taliban. Diese Abhängigkeit hätte nie eintreten dürfen. Schon heute wissen wir ja, dass längst nicht alle, für die wir Verantwortung tragen, rechtzeitig ausgeflogen werden können. Wir müssen uns die Frage stellen: Wie konnte es dazu kommen? Frankreich hat schon am 10. Mai mit der Evakuierung afghanischer Ortskräfte begonnen. In Deutschland erklärte der Außenminister am 9. Juni hingegen hier im Bundestag auf eine Frage meiner Fraktion, dass es nicht die Grundlage seiner Annahme sei, dass die Taliban in wenigen Wochen das Zepter in der Hand haben. Am 23. Juni haben die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und meine Fraktion hier im Bundestag Anträge gestellt, in Details unterschiedlich, aber einig darin, die Aufnahme afghanischer Ortskräfte zu erleichtern. Die regierungstragenden Fraktionen haben seinerzeit abgelehnt. Die aktuelle Situation in Afghanistan ist eine Katastrophe, aber sie kommt nicht aus dem Nichts. Hunderte Menschen mehr hätten evakuiert werden können. Auch dieser Verantwortung muss die Regierung sich stellen.

(Beifall bei der FDP)

Die Fäden der Verantwortlichkeit laufen beim Auswärtigen Amt zusammen. Die Rekonstruktion und Aufarbeitung ist nicht in einigen Sondersitzungen getan. Der Kollege der SPD hat eine Enquete-Kommission für die nächste Wahlperiode angeregt. Wir haben Zweifel, ob eine Enquete-Kommission das geeignete Instrument zur Aufklärung ist; denn die Vernehmung von Zeugen und auch die Sichtung von eingestuften Dokumenten wären so nicht möglich.

(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)

Mindestens für die Endphase des Abzugs ist das Mittel des parlamentarischen Untersuchungsausschusses empfehlenswert.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Frau Bundeskanzlerin, die Fragen, die Sie hier eben im Nachhinein aufgeworfen haben, hat Ihnen meine Fraktion in den vergangenen Jahren regelmäßig gestellt. Wir haben seit Jahren eine Exit-Strategie und eine Evaluation des Einsatzes gefordert. Tatsächlich ist der Einsatz ja nun auch vor allem an einem fehlenden eindeutigen Ziel gescheitert. Ob es ein militärischer Sieg über die Taliban war, das Auslöschen von Safe Havens für den internationalen Terrorismus oder Nation Building: Nie wurde offen darüber gesprochen, wofür sich Deutschland einsetzt. Und das war ein Fehler.

(Beifall bei der FDP)

Wegen dieser fehlenden Strategie, der fehlenden Anpassung an politische und militärische Entwicklungen haben wir ja bereits bei den letzten Mandatsverlängerungen unsere Bedenken vorgetragen. Es ist fraglich, ob NATO und Bundeswehr überhaupt Nation Building von außen leisten können, wenn von innen Unterstützung fehlt. Zu einer vorausschauenden Politik gehört deshalb, die Grenzen des Machbaren zu erkennen. Sie wurden uns in Afghanistan aufgezeigt, und wir müssen gemeinsam in unserem westlichen Bündnis daraus die Lehren für künftige und aktuelle Einsätze ziehen.

Wir dürfen uns in Zukunft zudem nicht von dynamischen Entwicklungen überrollen lassen. Wir müssen sie eher vorhersehen und Strategien schnell anpassen. Wir schlagen einen Bundessicherheitsrat vor, der das Kanzleramt, das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung institutionell vernetzt.

(Zurufe von der AfD)

Denn die letzten Tage und Wochen haben den Eindruck organisierter Unverantwortlichkeit verstärkt, und das muss Folgen für die Sicherheitspolitik unseres Landes haben.

(Beifall bei der FDP)

Der CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat dazu im Mai bereits einen sinnvollen Vorschlag in die Diskussion eingebracht. Es wäre vernünftig, wenn diesem Vorschlag von Herrn Laschet gefolgt würde, übrigens auch von der Unionsfraktion im Deutschen Bundestag. Die Unterstützung der FDP wäre Ihnen sicher.

(Beifall bei der FDP)

Einem Akteur indessen ist das Scheitern nicht vorzuwerfen: der Bundeswehr. Sie hat unter den Bedingungen das in ihrer Macht Stehende getan. Fast 150 000 Soldatinnen und Soldaten waren in den vergangenen 20 Jahren in Afghanistan im Einsatz; 59 – die Frau Bundeskanzlerin hat es gesagt – sind dort gefallen. Wir sehen, wie die Frustration der Veteranen steigt, weil sie das Gefühl haben, dass ihre jahrzehntelange Arbeit nicht gewürdigt wird, weil man ihre Verbündeten im Stich gelassen hat und weil sie das Gefühl haben, dass man sich für ihre Belange nicht interessiert. Wann war die Bundeskanzlerin zuletzt bei unseren Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan? Warum hat niemand die Heimkehrer in Deutschland empfangen? So sollte man nicht mit den Soldatinnen und Soldaten umgehen. Sie haben in Afghanistan ihre Pflicht erfüllt. Um es klar zu sagen: Dieses Land und dieses Parlament können stolz auf diese Bundeswehr sein.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)

Aber zum Respekt gehört auch, unserer Armee die bestmögliche Ausstattung zu gewähren. Nur so kann sie ihre Aufträge effizient und umfassend erfüllen. Man kann nicht auf der einen Seite die Handlungsunfähigkeit der Bundeswehr bemängeln und auf der anderen Seite die Anschaffung moderner Militärtechnik wie bewaffneter Drohnen blockieren. Das passt nicht zusammen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es ist beunruhigend, dass die Bundeswehr heute nicht in der Lage ist, so eine Evakuierungsoperation aus eigener Kraft zu leisten. Es ist beunruhigend, dass sich unsere Soldaten nicht ausreichend aus der Luft absichern können. Es ist daher Zeit, dass SPD und Grüne ihr bisweilen gestörtes Verhältnis zur Bundeswehr prüfen.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Widerspruch der Abg. Saskia Esken [SPD])

Ich komme zum Schluss. Ist es tatsächlich so, dass die Linkspartei diesem Mandat heute nicht zustimmen will?

(Zuruf von der LINKEN: Ja!)

– Ja? Dann, wenn Sie sich einem solchen Mandat verweigern, stelle ich fest: Stabiles Regieren wäre mit dieser Fraktion der Linkspartei nicht möglich.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alexander Dobrindt [CDU/CSU]: Da hat er recht!)

Wir erwarten von Herrn Scholz und Frau Baerbock, dass sie sich dieser Feststellung anschließen, dass mit einer Linkspartei kein Staat zu machen ist, die in einer solchen Situation unsere Soldatinnen und Soldaten in Rechtsunsicherheit lässt.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Aber mit Ihnen schon? Das hat man ja gemerkt! Ausgerechnet Lindner sagt das! – Alexander Dobrindt [CDU/CSU], an die SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gewandt: Genau! Sagen Sie doch, dass Sie mit Kommunisten regieren wollen!)

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul, CDU/CSU.

(Beifall bei der CDU/CSU)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7531848
Wahlperiode 19
Sitzung 238
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung der BKn zur Lage in Afghanistan, Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan
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