Norbert RöttgenCDU/CSU - Regierungserklärung der BKn zur Lage in Afghanistan, Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage, die wir heute debattieren, ist so dramatisch, so ernst, dass wir uns ihr in Ernsthaftigkeit stellen müssen – kritisch, selbstkritisch. Ich möchte dazu sagen: Mir ist überhaupt nicht nach wahlkampfgeprägten Vorwürfen zumute, dafür ist die Lage viel zu ernst.
Zunächst einmal geht es heute darum, dass der Deutsche Bundestag darüber abstimmt, ob die Rettungsaktion der Soldatinnen und Soldaten die parlamentarische Zustimmung erhält. Wenn der Bundestag diese verweigern würde, müssten die Soldaten ihre Rettung sofort einstellen. Darum möchte ich mich an Herrn Bartsch wenden. Sie haben gesagt, Herr Bartsch, es gehe um die Rettung von Menschen, von Menschenleben; Sie haben dafür Glück und Erfolg gewünscht. Ich schließe daraus, dass Sie diesem Antrag doch noch zustimmen werden; denn sonst wäre es eine zutiefst unehrliche Rede gewesen. Wer hier nicht zustimmt, verweigert die Rettung von Leben, von Menschenleben.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Das ist ein moralisches Versagen, das Sie dann mit der AfD-Fraktion teilen. Überlegen Sie sich, wie Sie sich gegenüber Menschen verantwortlich verhalten.
(Armin-Paulus Hampel [AfD]: So ein Quatsch!)
Das ist die Konsequenz.
Wir haben hier 20 Jahre lang über die Einsätze der Bundeswehr entschieden und über den Sinn dieser Einsätze diskutiert. Ich muss sagen: Der Sinn der Bundeswehreinsätze in Afghanistan über 20 Jahre ist jetzt auf dramatische Weise klar geworden. Ob die Bundeswehr in Afghanistan ist oder nicht, ob die NATO in Afghanistan ist oder nicht, das macht exakt den Unterschied aus zwischen einem relativ freien und sicheren Leben der Afghanen in Afghanistan oder der Herrschaft der Taliban, meine Damen und Herren. Das ist der Unterschied, den die Bundeswehr und die NATO ausgemacht haben.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Und das ist der Sinn und die Legitimation des Einsatzes, dem wir zugestimmt haben.
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Sie haben es noch nicht kapiert!)
Dass der amerikanische Präsident diesen Einsatz mit dieser Wirkung, der Verhinderung der Talibanherrschaft, ohne Not, ohne zwingenden Grund beendet hat, darin sehe ich das moralische und politische Versagen des Westens, das die Folge dieser Entscheidung war.
Kollege Röttgen, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Hampel?
Nein, möchte ich nicht. – Das ist das Versagen:
(Lachen und Beifall bei Abgeordneten der AfD)
dass wir den Schutz entzogen haben, den wir den Afghanen gegeben haben.
Darum, Frau Kollegin Baerbock, hätte es Format gehabt – ich komme gleich noch zur selbstkritischen Anmerkung –, wenn Sie sich als Vorsitzende Ihrer Partei und Kanzlerkandidatin hier an diesem Pult auch im Nachhinein mit den Folgen und der Bedeutung der Entscheidung der großen Mehrheit der Mitglieder Ihrer Fraktion beschäftigt hätten, der Verlängerung des Bundeswehreinsatzes nicht zuzustimmen. Es ist eine Entscheidung gewesen, die Sie getroffen haben, die auf der Linie des amerikanischen Präsidenten liegt, die nur vorher getroffen wurde und die genau diese Ereignisse zur Folge hatte, die wir jetzt beklagen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Auch diese Verantwortung, die Sie durch die Entscheidung in Ihrer Fraktion haben, muss reflektiert werden.
Herr Kollege – –
Und genauso muss ausgesprochen werden, dass die Regierung eine Lageeinschätzung haben konnte, die sie mit allen anderen geteilt hat, dass es eher das gute Szenario gibt. Aber selbstverständlich hätte die Regierung sich auch mit dem schlechten Szenario beschäftigen und sich auf dieses Szenario anders vorbereiten müssen. Auch das muss ausgesprochen werden. Beide Seiten müssen, glaube ich, hier thematisiert werden.
Herr Kollege Röttgen, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Nouripour?
Ja, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. Herzlichen Dank, Kollege Röttgen. – Ich bin in den letzten Jahren einer derjenigen gewesen, die diesem Einsatz immer zugestimmt haben. Ich war sehr oft in Afghanistan, kenne dort sehr viele Leute, und ich kann die Landessprache. Wir haben über jede einzelne Verlängerung immer eine lange Diskussion miteinander geführt. Es gab eine Mehrheit in meiner Fraktion, die dem Einsatz nicht zugestimmt hat. Sie hat sehr klar und deutlich gesagt, dass sie zwar weiß, dass wir an die afghanische Bevölkerung, an unsere Freunde und vor allem an unsere Freundinnen in Afghanistan, ein Signal setzen müssen, dass wir auf ihrer Seite stehen, dass sie aber kein Vertrauen in diese Bundesregierung und ihre Art und Weise hat, durch diesen Einsatz zu führen.
Ganz ehrlich: Wenn ich mir die letzten zwei Wochen, die Untätigkeit dieser Bundesregierung der letzten Wochen und Monate und den Sonderweg anschaue – Frau Merkel hat gerade ja behauptet, dass es ihn nicht gebe –, auf dem Deutschland so viel an den Zahlen herumgewerkelt hat, bis es jetzt nur noch 2 500 Ortskräfte sein sollen – Herr Grotian sagt, allein bei der Bundeswehr seien es 8 000 –, dann muss ich sagen: Es gab in meiner parlamentarischen Karriere noch nie einen Moment, in dem ich dieses Misstrauen meiner Fraktion so gut verstanden habe. Es gab noch nie so viele Belege dafür, dass es richtig war, dass meine Fraktion dieser Regierung mehrheitlich nicht vertraut hat.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Herr Kollege Nouripour, wenn ich es richtig weiß, dann haben Sie dem Antrag der Bundesregierung zugestimmt.
(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hat er ja gerade gesagt!)
Sie haben also anders abgestimmt als die Mehrheit Ihrer Fraktion, und Sie haben die Motive offensichtlich nicht geteilt. Dass die Opposition die Bundesregierung für ihre Politik in allen möglichen Bereichen kritisiert, ist der Sinn von Opposition. Insofern bin ich dankbar, dass Sie den Punkt herausgearbeitet haben.
Wir wissen es jetzt dramatisch besser als vorher – das räume ich ein –: Es ging in Bezug auf diese Mandate und die Frage, ob die Bundeswehr und die NATO in Afghanistan aktiv sein sollten, nicht in erster Linie um eine Kritik der Opposition an der Regierung
(Annalena Baerbock [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)
– ja, auch, aber nicht in erster Linie und nicht entscheidend –, sondern es ging darum, zu verhindern, dass das passiert, was jetzt Realität ist,
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
dass nämlich die brutale Talibanherrschaft wieder da ist, dass der Fanatismus regiert. Darum ging es. Deshalb haben Sie sich, Kollege Nouripour, anders entschieden als die Mehrheit Ihrer Fraktion. Es war eine richtige Entscheidung, und ich respektiere Sie sehr dafür. Dass Sie jetzt das Votum der Mehrheit rechtfertigen, spricht auch für Sie, aber es ändert nichts am Sachverhalt.
Zumindest im Nachhinein ist klar – und ich glaube, die Mehrheit hat es auch im Vorhinein schon so gesehen –: Es gab diesen legitimierenden, befriedenden Sinn unseres Einsatzes. – Die Katastrophe ist, dass er beendet wurde. Die Mehrheit der Grünen hat für die Beendigung gestimmt, und das ist die historische Wahrheit, mit der wir es zu tun haben.
(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Ich glaube, dass wir die großen, weitreichenden Konsequenzen dieser Katastrophe noch nicht ermessen können.
(Armin-Paulus Hampel [AfD]: Doch!)
Die USA sind in ihrem außenpolitischen Anspruch, den ihre neue Administration mit sehr viel Erwartung und Hoffnung formuliert hat, beschädigt. Die USA und die Administration werden nicht mehr da anknüpfen können, wo es geendet hat.
Wir haben diese Art des Rückzugs der USA ja übereinstimmend für falsch gehalten – die meisten hier jedenfalls, die Mehrheit –, aber wir sind ihr gefolgt. Wir mussten ihr folgen, weil es keine europäischen Fähigkeiten gibt, unsere eigene Politik selber abzusichern. Wir haben erneut europäische Ohnmacht erlebt.
Wenn es eine Konsequenz gibt, mit der wir uns beschäftigen müssen, wenn es ein nationales Gebot gibt, Konsequenzen zu ziehen und aus dem Versagen, das wir erlebt haben, zu lernen, dann ist es Folgendes: Wir müssen die europäische Ohnmacht, wenn es um unsere Werte und unsere eigenen Interessen geht, beenden.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir dürfen uns dieser Ohnmacht nicht weiter hingeben, sondern wir müssen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir das, was wir politisch und außenpolitisch für richtig halten, auch verwirklichen können – und nicht nur in den Fällen, in denen wir mit den USA übereinstimmen, sondern auch in den Dissensfällen. Das ist die Lehre, die wir daraus ziehen müssen.
Kollege Röttgen, Sie sind sehr gefragt.
Das ist doch mal eine freundliche Feststellung in dieser Debatte. Vielen Dank, Frau Präsidentin.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Nein, möchte ich nicht.
(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So gefragt sind Sie dann auch wieder nicht!)
– Ja, ja. – Es geht um die Frage, wie wir damit umgehen. Wir brauchen einen politischen Willen der Europäer.
Es werden in den nächsten Monaten nicht die EU-27 sein, aber wir müssen handeln. Also muss die deutsche Außenpolitik mit anderen Staaten zusammen aktiv werden, sofort etwas tun.
(Zuruf von der AfD: Was denn?)
Was wir brauchen – auch das ist eine unausweichliche Debatte –, sind besser ausgestattete, überhaupt vorhandene militärische Fähigkeiten als Teile deutscher und europäischer Außenpolitik. Wenn wir nicht in der Lage sind, in Extremfällen, in Ausnahmefällen, unsere politischen Ziele – Frieden, Verständigung, Vernunft, Menschenrechte – auch militärisch abzusichern, dann werden wir diese Ziele nicht verwirklichen können. Auch mit dieser Realität müssen wir uns beschäftigen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Eine letzte Bemerkung. Ich weiß nicht, wie viel wir in den nächsten fünf Wochen über die Fragen, wer wir in dieser chaotischen, gefährlichen Welt sein wollen, was wir bewirken wollen, was wir dafür einzusetzen bereit sind, diskutieren werden. Ich bin mir aber sicher: Alle diese Fragen werden uns in den nächsten Jahren begegnen, und wir können und sollten ihnen nicht ausweichen, sondern wir müssen sie im Sinne unseres deutschen Selbstverständnisses in Europa und in der Welt beantworten.
Kollege Röttgen.
Das ist unser nationales Interesse: selber zu bestimmen, wie wir unsere Werte und Interessen vertreten.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Das Wort hat der Kollege Marco Bülow.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7531859 |
Wahlperiode | 19 |
Sitzung | 238 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung der BKn zur Lage in Afghanistan, Bundeswehreinsatz zur Evakuierung aus Afghanistan |