07.09.2021 | Deutscher Bundestag / 19. WP / Sitzung 239 / Tagesordnungspunkt 1

Frauke Petryfraktionslos - Vereinbarte Debatte zur Situation in Deutschland

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir befinden uns weniger als drei Wochen vor der Wahl zum 20. Bundestag, und das Schauspiel läuft ab wie immer, auch wenn viele Redner heute beteuern, dass in dieser Legislatur angeblich alles anders und schwieriger gewesen sei.

Meine Damen und Herren, nicht Afghanistan, nicht das Auftreten des Coronavirus, nicht die Flut im Ahrtal haben dieses Land aus dem Gleichgewicht gebracht. Nein, es ist neben einer seit Langem verfehlten Finanz- und Migrationspolitik, einem stetigen Ausufern des Sozialstaats und einer schrittweisen Entmündigung von Bürgern und Unternehmen vor allem eines: Deutschland fehlt das gemeinsame Ziel – nicht nur innerhalb der CDU, in der eine Kanzlerin ihrem Nachfolger ganz zufällig einen Bärendienst nach dem anderen erweist und diesem die Kraft fehlt, aus ihrem Schatten zu treten.

Nicht nur die Parteien fallen sichtbar auseinander, auch die Gesellschaft Deutschlands ist in diesem Jahr 2021 fragmentierter, gespaltener, als ich es selbst je für möglich gehalten hätte. Wer über Jahrzehnte das private Leben politisiert oder – sagen wir gar – demokratisiert und Meinungen moralisiert, darf sich über eine Spaltung quer durch alle Milieus nicht wundern.

Meine Damen und Herren, was ist die gemeinsame Idee für dieses Land? Mehr staatliche Betreuung in Kitas und Schulen statt mehr Zeit für Familien? Mehr politische Eingriffe in den Alltag bis zur Abfrage des Impfstatus, während in den Schulklassen gleichzeitig das offene Verlesen der Zensuren aus Datenschutzgründen unmöglich ist? Oder ist es auch für eine steigende Anzahl von Bürgern die Abwendung vom politischen Leben unter Verzicht auf das aktive Wahlrecht, wie es Millionen Wähler in diesem Land auch in weniger als drei Wochen wieder praktizieren werden?

Das sollte uns besorgen. Die einen suchen ihr Heil im Predigen der klimatischen Apokalypse und sind bereit, die Wohlstandsmotoren Auto und Mittelstand zu beerdigen, die anderen klammern sich ebenso erfolglos an die mehrfach gestorbene Idee des Nationalstaates, der von einer Mehrheit der Bürger dieses Landes nicht mehr getragen wird – um nur zwei von vielen Themen zu nennen, die hochemotional diskutiert werden.

Meine Damen und Herren, während ein kleines Land wie die föderale Schweiz seit 1848 eine nahezu unveränderte Verfassung hat und sehr viel mehr freiheitsliebende Bürger als hier, zeigt unser vergleichsweise junges Grundgesetz nach über 70 Jahren dramatische Ermüdungssymptome, vielleicht auch, weil zu oft daran herumgedoktert wurde. Diese Symptome sind nirgendwo deutlicher als in der faktischen Entzweiung zwischen den Lebensrealitäten des politischen Berlins und dem Leben in Sachsen, Bayern, Schleswig-Holstein oder an anderen Orten. Während die allermeisten Bürger davon überzeugt sind, dass die Bürger immer stärker reglementiert und erzogen werden müssen, bis hin zur Verstümmelung der Sprache mit Gendersternchen und Doppelpunkten, wollen viele Bürger von diesen Segnungen einfach nur noch in Ruhe gelassen werden. Sie wollen arbeiten und leben – mit oder ohne Familie, in der Stadt, auf dem Land –, und sie brauchen keine Vorschriften von uns darüber, wann und mit wem sie ihr Haus oder die Wohnung verlassen dürfen, oder gar Reisebeschränkungen, die an die letzte deutsche Diktatur erinnern.

Den ganzen Vormittag, meine Damen und Herren, wurde hier eine angebliche Richtungsentscheidung beschworen. Mit Blick auf den Erhalt des eigenen Mandats mag das zutreffen; aber wenn Sie die Wähler fragen, werden Sie erstaunt sein, wie wenig Unterschiede diese zwischen den Parteien noch erkennen.

Die Frage, die wir viel öfter stellen müssen, lautet: Hat dieser Bundestag, hat dieses politische System überhaupt noch eine breite gesellschaftliche Legitimation der Bürger, oder agieren wir längst im politischen Vakuum? Oder anders: Ist ein politisches Berlin besser in der Lage, Probleme zu lösen, als finanziell autonome Landkreise oder Bundesländer? Ist die sogenannte Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse nicht in Wahrheit ein sozialistischer Blütentraum, der Wettbewerb und die freie Entscheidung verhindert, so zu leben, wie jeder es möchte?

Nein, wir brauchen nicht mehr Regierung, nicht mehr Minister, nicht mehr Regeln, nicht neue Subventionen, nicht die Abschaffung des Föderalismus, nicht die Zentralisierung, sondern wir brauchen endlich mehr Freiheit und eine neue Idee für dieses Land. Denn wenn die Nation, meine Damen und Herren, nicht überlebensfähig ist, dann ist es ein europäischer Zentralstaat auch nicht; denn er ist nicht mehr als eine verbrauchte Idee auf einer noch schlechter überschaubaren Ebene.

Meine Damen und Herren, die Idee der Freiheit hatte in Deutschland noch nie breite Mehrheiten; aber nach dem Zweiten Weltkrieg gab es immerhin für einige Jahre politische und wirtschaftliche Vernunft. Heute sind staatliche Zuteilung und Erziehung wieder salonfähig und erinnern an dunkle Episoden in diesem Land. Ob sich Inseln der menschlichen, individuellen Freiheit in die Zukunft retten lassen, das entscheiden Bürger, Politiker und Mandatsträger in den nächsten Jahren. Den Mut zu dieser offenen Diskussion wünsche ich uns allen gemeinsam.

(Beifall des Abg. Mario Mieruch [fraktionslos])

Das Wort hat die Kollegin Yasmin Fahimi für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7531978
Wahlperiode 19
Sitzung 239
Tagesordnungspunkt Vereinbarte Debatte zur Situation in Deutschland
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