26.10.2021 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 1 / Tagesordnungspunkt 1

Wolfgang SchäubleCDU/CSU - Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten

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Jetzt rufe ich auf den Tagesordnungspunkt 1:

Ich eröffne als Alterspräsident die erste Sitzung der 20. Wahlperiode. Ich begrüße unseren Bundespräsidenten, Herrn Dr. Frank-Walter Steinmeier. Herr Bundespräsident, wir freuen uns, dass Sie heute da sind.

Dann begrüße ich die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, die heute auf ungewohntem Platz sitzt.

Ich heiße die ehemalige Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Dr. Rita Süssmuth, herzlich willkommen,

ebenso die ehemalige Präsidentin der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR, Frau Dr. Sabine Bergmann-Pohl.

Stellvertretend für das Diplomatische Korps begrüße ich seine Exzellenz den Apostolischen Nuntius und alle weiteren Ehrengäste, die auf der Tribüne an dieser Sitzung teilnehmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die anhaltende pandemische Lage erzwingt auch, dass diese Sitzung in Vollpräsenz nur unter Geltung zusätzlicher Infektionsschutzmaßnahmen stattfinden kann. Die Fraktionen hatten sich ursprünglich darauf verständigt, dass für diese Sitzung ein 3-G-Konzept gilt. Das bedeutet, dass Zutritt zum Plenarsaal in der unteren Ebene ausschließlich diejenigen Personen haben, die vollständig gegen das SARS-CoV-2-Virus geimpft sind, von einer Coronaerkrankung genesen oder aktuell negativ getestet sind.

Der Geimpft-, Genesenen- oder Getestetenstatus ist nach Maßgabe meiner Anordnung zur Anwendung der 3-G-Regel bei der Durchführung der konstituierenden Sitzung vom 14. Oktober 2021 als Zutrittsberechtigung zur unteren Ebene des Plenarsaals und zur West- und zur Abgeordnetenlobby nachzuweisen. Für die heutige Sitzung gelten als Nachweis für Ihren Status auch die Handgelenkbänder, die Sie zuvor erhalten haben.

Diejenigen Abgeordneten, die einen solchen Nachweis nicht erbringen oder trotz Nachweis mit Abstand sitzen möchten, haben die Möglichkeit, unter Wahrung des Abstandsgebots auf den Tribünen an der Sitzung teilzunehmen. Mikrofone sind dort vorhanden. Auch die später folgenden Wahlen finden für diese Abgeordneten auf der Tribüne statt.

Bitte beachten Sie, dass weiterhin die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Mund-Nasen-Bedeckung gilt. Sie kann am Sitzplatz, am Rednerpult und an den Saalmikrofonen abgelegt werden. Sofern Sie hier im Plenum einschließlich der West- und der Abgeordnetenlobby gegen diese Zutrittsregel, die Nachweispflicht, die Pflicht zum Tragen einer medizinischen Mund-Nasen-Bedeckung sowie das für die Abgeordneten auf den Tribünenplätzen geltende Abstandsgebot verstoßen, kann dies mit den Mitteln des parlamentarischen Ordnungsrechts geahndet werden.

Die Fraktion der AfD widerspricht nunmehr der Anwendung des 3-G-Konzepts.

Darüber stimmen wir jetzt ab. Wer stimmt für die Anwendung des von mir eben beschriebenen 3-G-Konzepts? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieses Konzept als Teil unserer parlamentarischen Ordnung gegen die Stimmen der AfD mit den Stimmen des übrigen Hauses so beschlossen.

Nach Absprache mit den Fraktionen benenne ich als vorläufige Schriftführerinnen und Schriftführer die Damen und Herren Abgeordneten Gökay Akbulut, Norbert Altenkamp, Artur Auernhammer, Silvia Breher, Leni Breymaier, Sandra Bubendorfer-Licht, Astrid Damerow, Dr. Karamba Diaby, Esther Dilcher, Michael Donth, Thomas Erndl, Kay Gottschalk, Erhard Grundl, Mariana Harder-Kühnel, Peter Heidt, Marc Henrichmann, Thomas Hitschler, Dr. Bettina Hoffmann, Michael Kießling, Norbert Kleinwächter, Jens Koeppen, Christian Kühn (Tübingen), Markus Kurth, Ulrich Lechte, Paul Lehrieder, Isabel Mackensen-Geis, Dorothee Martin, Claudia Moll, Petra Nicolaisen, Jan Nolte, Josef Oster, Tabea Rößner, Felix Schreiner, Michael Schrodi, Katrin Staffler, Mathias Stein, Benjamin Strasser, Jessica Tatti, Dr. Hermann-Josef Tebroke, Kerstin Vieregge, Marja-Liisa Völlers, Wolfgang Wiehle, Gülistan Yüksel.

Ich bitte die Abgeordneten Gülistan Yüksel und Jens Koeppen, neben mir Platz zu nehmen.

Denken Sie an die Maske.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass wir im Reichstagsgebäude tagen, ist ja eigentlich keiner Erwähnung wert. Und dennoch ist es heute eine Besonderheit. Wir kommen trotz der pandemischen Beschränkungen erstmals wieder alle gemeinsam im Plenum zusammen. Das macht eine überfraktionelle Verständigung möglich, die wir eben mit großer Mehrheit bestätigt haben.

In der vergangenen Legislaturperiode hat dieses Haus sogar, wenn nötig, einen überfraktionellen Konsens herstellen können, um die Handlungsfähigkeit des Parlaments zu sichern. Die Bürgerinnen und Bürger schauen auf uns. Ihre Erwartungen an das Parlament sind zu Recht groß. Wir sollten weiter alles tun, um dem gemeinsam gerecht zu werden.

Die heutige Abstimmung sollte nicht die letzte gewesen sein, in der wir mit überwältigender Mehrheit über die Fraktionsgrenzen hinweg entscheiden. Wenn uns das etwa beim Wahlrecht gelänge, wäre ich nach der auch für mich persönlich bitteren Erfahrung der vergangenen Legislaturperiode bestimmt nicht traurig.

Eine Wahlrechtsreform, die diesen Namen verdient, ist allerdings keinen Deut leichter geworden. Und trotzdem duldet sie ersichtlich keinen Aufschub. Mehr möchte ich dazu nicht sagen, außer dass jedenfalls nach meinem Verständnis bei einer Entscheidung dieser Tragweite eigentlich keine politische Kraft im Parlament aus der Mitverantwortung für eine tragfähige Lösung entlassen werden sollte.

Konsens, liebe Kolleginnen und Kollegen, wird in diesem Haus auch zukünftig nicht die Regel sein, und das sollte es auch nicht. Hier ist der Ort, an dem wir streiten dürfen, an dem wir streiten sollen, aber fair und nach Regeln, leidenschaftlich, aber auch mit der Gelassenheit, die einer erregten Öffentlichkeit Beispiel geben kann. Wenn wir das Prinzip der Repräsentation stärken wollen, dann müssen wir uns immer wieder um die Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen. Das Parlament ist immer auch eine politische Bühne und nicht bloß eine notarielle Veranstaltung, um Koalitionsverträge abzuarbeiten, zumal sich die Entwicklungen einer vernetzten Welt mit ihren wechselnden Herausforderungen nicht an Koalitionsverträge halten, wie wir erfahren haben.

Umso mehr kommt es auf das Parlament an – als der Raum, in dem die Vielfalt an Meinungen offen zur Sprache kommt. Das wird noch wichtiger, weil in unserer Gesellschaft die Bereitschaft sinkt, gegensätzliche Standpunkte auszuhalten, Widerspruch überhaupt zuzulassen, weil der Drang nach Konformität in der Gruppe wächst, um von sich fernzuhalten, was dem eigenen Empfinden und Denken widerspricht.

Wir sollten den Streit in der Mitte der Gesellschaft suchen und ihn öffentlich hier im Parlament austragen, indem wir deutlich machen, dass nie eine Seite allein recht hat, dass um der Sache willen miteinander gerungen werden muss. Politik ist ja kein Selbstzweck. Wir dienen nicht dem Eigeninteresse einer gesellschaftlichen Gruppe oder einer Meinungsblase, sondern wir dienen der Gemeinschaft. Am Ende unserer Debatten stehen Entscheidungen, für die wir die Verantwortung tragen, durch Mehrheiten, die wechseln können. Das erleben wir gerade.

Ohne Kompromisse geht das nicht, erst recht nicht bei Mehrheitsverhältnissen wie nach dieser Wahl. Aber suchen wir auch nicht immer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner, indem wir im Detail streiten. Trauen wir uns etwas zu, ob in Regierungsverantwortung oder als Opposition; sonst geht verloren, was die Demokratie eben auch dringend braucht: politische Führung.

Sie verlangt von uns als Abgeordnete den Blick für die wirklich großen Aufgaben und die Fähigkeit, das gesellschaftliche Interesse auf diese großen Aufgaben zu lenken, Orientierung zu geben. Dazu müssen wir bereit sein, den Menschen auch etwas zuzumuten. Nicht nur Antworten geben, die gern gehört werden, sondern Lösungen entwickeln und zur Diskussion stellen für die Aufgaben, die wir als drängend erachten, und davon die Bürger überzeugen: Dazu verpflichtet uns unser Mandat.

Das mitunter zähe Ringen um gesellschaftliche Mehrheiten sollten wir gerade auch denjenigen nahebringen, die mit Blick auf den Klimawandel von der Trägheit demokratischer Prozesse enttäuscht sind und sofortiges Handeln fordern. Ihre Motive sind nachvollziehbar, aber wissenschaftliche Erkenntnis allein ist noch keine Politik und schon gar nicht demokratische Mehrheit. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung. Übrigens kann die Wissenschaft genauso wenig letzte Gewissheit liefern, und in der Demokratie gibt es sowieso nicht die eine richtige Entscheidung. Genau damit müssen wir umgehen.

Zu Beginn der Pandemie haben wir ja erlebt, wie groß in einer Gefahrensituation das Bedürfnis nach klaren politischen Vorgaben ist; wir brauchten wissenschaftlichen Rat. Doch der Stand der Virologie und der Medizin war damals noch recht unsicher, weil es eben ein neues Phänomen war. Die wissenschaftliche Logik, die nicht nur auf Konsens, sondern gerade auf Ambiguität, Zweifel und Widerspruch beruht, geriet in ein Spannungsverhältnis zu den drängenden politischen Notwendigkeiten. Parlament und Regierung mussten handeln. Und wir mussten trotz des unsicheren Erkenntnisstands und im Wissen um die Vorläufigkeit wissenschaftlicher Forschung rasch Entscheidungen treffen und dabei verschiedene Disziplinen hören: die Soziologie, die Ökonomie, Psychologie und Pädagogik, auch den Ethikrat. Denn natürlich galt es, die ethisch-moralische Dimension genauso wie die verfassungsrechtlichen Aspekte unserer Maßnahmen mit zu bedenken. Wir haben auch die unterschiedlichen Argumente von Interessengruppen einbezogen.

In dieser Situation wurde ja wieder besonders deutlich: Politik ist immer ein schwieriger Abwägungsprozess, ein Austarieren widerstreitender Interessen. Dabei darf sie den Blick auf das große Ganze nie verlieren. Das ist Politik: das Ringen um Mehrheiten, die Suche nach Lösungen, nach bestem Wissen und Gewissen Entscheidungen treffen und sie dann auch verantworten. Es berührt unser Selbstverständnis als Demokraten. Aber wir müssen stets neu beweisen, die großen Herausforderungen unserer Zeit im Rahmen von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie bewältigen zu können.

In der Coronapandemie ist es im Großen und Ganzen gelungen, auch unter enormem Entscheidungsdruck kontroverse Debatten zu führen und widerstrebende Werte und Interessen gegeneinander abzuwägen, auch wenn sich im Einzelnen Kritik immer üben lässt. Die parlamentarische Demokratie hat eine beispiellose Bewährungsprobe bestanden, und diese Erfahrung kann uns Mut machen für andere globale Herausforderungen.

Die parlamentarische Demokratie wird im Wettbewerb mit autoritären Systemen bestehen, wenn wir als Gesetzgeber die Weichen so stellen, dass unsere Regierungsform neben ihrer Wertegebundenheit auch durch Effizienz überzeugt. Aber hüten wir uns gleichzeitig vor der Versuchung, alles regeln zu wollen. Politik weiß nicht alles besser. Wenn Politik meint, sie habe keine Grenzen, ist das mindestens genauso gefährlich, wie wenn andere glauben, sie seien keinen Begrenzungen unterworfen.

Das Prinzip unserer freiheitlichen Ordnung ist, dass sie begrenzt ist.

Der Souverän hat mit seiner Wahlentscheidung vom 26. September die parteipolitische Vielfalt im Bundestag bestätigt und neue Mehrheiten ermöglicht. Für 279 Abgeordnete beginnt heute ein neues Leben als Parlamentarier. Behaupte noch einer, die parlamentarische Demokratie könne sich nicht personell erneuern: Fast 40 Prozent aller Mitglieder unseres Hauses bringen ihre Lebenswege, andere berufliche Hintergründe, persönliche Erfahrungen und Meinungen erstmals hier ein.

Gestatten Sie mir gerade an Sie, unsere neuen Kolleginnen und Kollegen, gewandt eine persönliche Bemerkung: Mit diesem Mandat, das Ihnen auf Zeit verliehen ist – bei dem man im Übrigen nie genau wissen kann, wie lange diese Zeit dann wirklich dauert –, kommt eine außergewöhnliche und erfüllende Arbeit auf Sie zu und zugleich eine strapaziöse und vereinnahmende Zeit. Bei allem politischen Elan: Die Arbeit auf offener Bühne verlangt, das Private zu schützen. Seine Integrität wahrt, wer weiterhin zuhören kann und seinen inneren Kompass nicht verliert, wer sich in Kollegialität und Fairness übt, wer sich über die Verhaltensregeln, die wir uns geben, hinaus den Sinn dafür bewahrt, was anständig ist und – womöglich noch stärker – was unanständig ist. Früher hätte man gesagt: Was sich gehört und was nicht.

Wir alle repräsentieren als Abgeordnete das Volk. Wir vertreten die legitimen Interessen unserer Wähler und Parteien. Aber: Wir haben immer auch das Gemeinwohl im Blick zu behalten. Verwechseln wir Repräsentation nicht mit Repräsentativität. Jeder Einzelne von uns bildet nicht einfach einen Teil des Volkes ab. Artikel 38 GG ist eindeutig: Abgeordnete – jeder Abgeordnete! – sind „Vertreter des ganzen Volkes“. Auch wenn sich natürlich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll: Der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein. Wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden: in beruflicher, in regionaler, in kultureller oder religiöser Hinsicht. Und er leistet dem irrigen Verständnis Vorschub, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten.

Aber bei wem wollen wir dann anfangen? Und wo endet das? Ein Parlament, das zwar die Vielfalt abbildet, aber darüber keine Mehrheiten schaffen kann, ist eben kein Parlament!

Unsere repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger – ohne Rücksicht auf ihre soziokulturellen Merkmale. Als Parlamentarier muss sich eine Juristin aus der Finanzverwaltung mit Fragen der Landwirtschaft vertraut machen und der Handwerksmeister Entscheidungen über eine Pflegereform treffen. Darin besteht das Mandat von Abgeordneten. Als gewählte Repräsentanten vertreten wir die Repräsentierten nicht durch unsere Person, sondern durch unsere Politik. Durch sie sollten alle Menschen politisch Gehör finden. Der Bundestag bündelt Interessen, und er trägt damit Verantwortung für den Zusammenhalt in unserem Land. Deshalb sollten wir uns immer wieder selbst hinterfragen, ob wir, ob unsere Parteien der Vielfalt an Interessen und Meinungen genügend Gehör verschaffen und auch ob die Erwartung der Bevölkerung, an Gestaltungsprozessen selbst teilhaben zu können, ausreichend erfüllt wird.

In der vergangenen Legislaturperiode hat sich das Parlament mit einem Bürgerrat für eine Form der deliberativen Demokratie geöffnet. Ich denke, dieser Bundestag wäre gut beraten, sich noch einmal intensiv mit den Vorteilen, aber auch den Grenzen dieser Art von Bürgerbeteiligung zu befassen, zumal Bürgerräte einen Raum schaffen, in dem unterschiedliche Menschen zusammenkommen, einander kennenlernen und sich austauschen müssen. Miteinander. Vereinzelungsorte haben wir ja schließlich mehr als genug. Mehr Mitsprache heißt nicht automatisch mehr Partizipation und auch nicht zwangsläufig mehr Akzeptanz für die am Ende im Parlament getroffenen Entscheidungen. Dabei leistet die repräsentative Demokratie, was auf keinem anderen Weg vergleichbar gelingt: nicht nur die Vertretung mobilisierbarer Interessen, sondern auch der Ausgleich widerstreitender Interessen, nicht nur fordern, sondern auch gestalten, nicht nur entscheiden, sondern auch verantworten. Davon werden wir die Bürger jedoch nur überzeugen, wenn wir unsere Rolle aktiv wahrnehmen. Es braucht ein selbstbewusstes Parlament, und es braucht selbstbewusste Parlamentarier.

Das fordert viel von uns. Da ist der Wille des Wählers, aber auch die Eigenständigkeit des Gewählten und die Abhängigkeit des einen vom anderen. Da ist der Drang, sich profilieren zu wollen, und gleichzeitig die Notwendigkeit, als Fraktion Geschlossenheit zu zeigen. Da ist das Selbstverständnis der Fraktion auf Eigenständigkeit und in Regierungsverantwortung der Druck, stabile parlamentarische Mehrheiten zu sichern. Diesem Spannungsfeld können wir nicht ausweichen. Aber wir sollten uns dessen bewusst sein und uns um die richtige Balance bemühen. Denn wir tragen Verantwortung dafür, das Parlament gegenüber wachsenden plebiszitären Ansprüchen zu stärken. Und im Übrigen liegt es an uns, wie weit wir unsere Gestaltungsspielräume als Gesetzgeber einengen lassen durch eine Rechtsprechung, die bisweilen mindestens an die Grenzen ihres Mandats geht.

Dazu gehört für mich dann allerdings auch, Verantwortung, die politisch wahrzunehmen ist, nicht auf Gerichte abzuwälzen.

Bei unseren Entscheidungen sind wir heute im Übrigen stärker denn je in globale Zusammenhänge eingebunden. Die komplexen Herausforderungen lassen sich nicht mehr allein im Nationalstaat bewältigen. Deshalb werden wir in einer Welt des rasanten Wandels den Bürgerinnen und Bürgern auch nur dann Halt geben können, wenn wir Europa stärken und zusammenhalten. Dazu braucht es unsere Bereitschaft, die anderen besser verstehen zu wollen, die Interessen, Erfahrungen, die historischen und kulturellen Prägungen der anderen zu kennen und zu respektieren. Ich habe in den Jahren, in denen ich diesem Haus und verschiedenen Regierungen angehören durfte, die Erfahrung gemacht: Parlamente können hier ergänzend zur Regierung manches bewirken. Als Abgeordnete sind wir es ja gewohnt, unterschiedliche Sichtweisen, widerstreitende, aber legitime Interessen auszuhandeln.

Wir haben vor drei Jahren mit der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung eine weltweit einzigartige binationale Kammer geschaffen, die in der Pandemie eindrucksvoll bewiesen hat, wozu sie in der Lage ist. Wir können stolz darauf sein, und wir sollten darauf aufbauen.

Vergessen wir darüber aber bitte auch nicht die besondere Mittlerrolle, die Deutschland für unsere mittelost- und osteuropäischen Nachbarn zukommt – auch und gerade diesem Parlament. Leisten wir unseren Beitrag dazu, dass sich die Spaltungen in Europa nicht weiter vertiefen.

Noch ein persönliches Wort zum Schluss. Ich habe in den vergangenen vier Jahren in diesem Haus ein fraktionsübergreifendes hohes Maß an Unterstützung und Respekt im Amt des Bundestagspräsidenten erfahren – dafür bin ich dankbar –, und ich erhoffe und erbitte es auch für meine Nachfolgerin, die wir heute in dieses Amt wählen.

Als Abgeordnete haben wir alle die gleichen Rechte; darüber hat der Präsident/die Präsidentin zu wachen, mit aller Kraft. Aber wir haben auch alle die gleichen Pflichten. Am Verhalten jedes Einzelnen von uns – auch das mussten wir zuletzt wieder erfahren – hängt die Würde dieses Hauses. Wir haben es in der Hand, ob die Bürgerinnen und Bürger dieser Volksvertretung das schenken, worauf die parlamentarische Demokratie aufbaut, nämlich ihr Vertrauen.

Ich danke Ihnen.

– Bringen Sie mich bitte nicht zu sehr in Rührung.


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7532170
Wahlperiode 20
Sitzung 1
Tagesordnungspunkt Eröffnung der Sitzung durch den Alterspräsidenten
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