15.12.2021 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 8 / Tagesordnungspunkt 1

Saskia EskenSPD - Regierungserklärung durch den Bundeskanzler

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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jede Wahl ist ein Vertrauensvorschuss, und das gilt in ganz besonderem Maße für die Bundestagswahl. Es geht um das Vertrauen der Menschen in unser demokratisches System. Es geht um das Vertrauen in ein starkes Parlament, das im demokratischen Wettstreit um die besten Lösungen ringt und das, ja, auch seiner Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle gerecht wird. Es geht um das Vertrauen in eine Regierung, die nicht nur ihre Vorhabenliste abarbeitet, sondern die Tag für Tag und zuverlässig die drängenden Probleme löst und gleichzeitig vorausschauend den Wandel zum Wohle der Menschen gestaltet.

Und nicht zuletzt geht es um das Vertrauen in einen Bundeskanzler – einen Bundeskanzler, der gerade auch in schwierigen Zeiten Orientierung bietet, nicht nur für die Menschen, die ihn gewählt haben, und die ihn tragenden Parteien, sondern für die ganze Gesellschaft. Das ist die Aufgabe von Olaf Scholz, und wir haben heute erfahren können, wie er dieser Aufgabe gerecht werden will.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, um mit dieser Koalition erfolgreiche, den Menschen und dem Land dienende Politik zu machen, brauchen wir dieses Vertrauen auch untereinander; denn diese Ampelregierung ist ein ganz besonderes, ein neuartiges Bündnis. Wir sind Parteien mit recht unterschiedlichen Traditionen und Grundhaltungen. Wo für die Grünen die ökologische Nachhaltigkeit als Gründungsimpuls und Kernthema gelten darf, ist das für die Liberalen der Gedanke der freien Entfaltung des Individuums. Die SPD ist seit über 150 Jahren die Partei der Arbeit, der Arbeiternehmerinnen und Arbeitnehmer, und wir stehen für eine solidarische Gesellschaft.

In ganz zentralen Fragen sind wir uns in der Ampel einig, bei anderen ergänzen wir uns. Und in manchen Fragen haben wir auch in aller Härte gerungen. Aber wir haben ein Grundvertrauen aufgebaut, ein Grundvertrauen gefunden, auf das wir bauen können. Ich bin überzeugt: Das ist ein Vertrauen, das auch über Jahre tragen wird.

Wie ist es entstanden? Wir sind mit Neugierde und mit Offenheit auf die Haltungen und Positionen der anderen eingegangen – nicht um Unterschiede gleichzumachen, sondern um uns und die eigenen Haltungen weiterzuentwickeln. Wir haben dabei nicht nur viel über die anderen gelernt, sondern auch über uns selbst, uns sozusagen noch mal ganz neu verstanden. Ein solcher Diskurs auf der Basis von Respekt, aus dem Vertrauen und Zusammenhalt erst erwachsen, lässt sich nicht verordnen. Er lässt sich vorleben, er lässt sich fördern, unterstützen und stärken; denn das, was uns als Koalition stark gemacht hat, das kann auch die Gesellschaft stärken.

Politik, Medien und Wissenschaft spielen in einem solchen Diskurs bedeutende, aber sehr unterschiedliche Rollen, und die sollten wir auch auseinanderhalten. Gute politische Entscheidungen sollten von der Wissenschaft informiert getroffen werden, auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnis. Deshalb laden wir zu Expertenanhörungen ein und nehmen uns die Zeit für Enquete-Kommissionen; wahre Lernveranstaltungen für das Parlament. So verstehe ich auch den Expertenrat, der die Regierung in diesen schwierigen Zeiten beraten wird. Aber wir sollten uns bewusst sein, dass die Währung der Wissenschaft Erkenntnis ist, reine Erkenntnis; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Auftrag der Medien wiederum ist es, die Dinge zu erklären, zu hinterfragen, in Zusammenhang zu bringen und einzuordnen. Um dieser Aufgabe nachzukommen, ist Unabhängigkeit unabdingbar: Unabhängigkeit vom politischen Druck, von allzu viel ökonomischem Druck und auch vom Druck der Straße.

Natürlich ist die Welt einem steten Wandel unterzogen, und so ist es eben auch die wissenschaftliche Erkenntnis. Auch politische Entscheidungen werden manchmal von der Realität eingeholt. Dazu kommen Phänomene, die das Erklären von Regierungshandeln in Krisenzeiten besonders erschweren. Maßnahmen, die schwere Ausbrüche und hohe Infektionszahlen verhindert haben, wurden als Gängelung empfunden. Warum? Weil sie eine Katastrophe verhindert haben! Das Ausbleiben der Katastrophe führt dazu, dass die vorbeugenden Maßnahmen als überzogen empfunden werden. Durch das sogenannte Präventionsparadox fehlt dann späteren Maßnahmen, notwendigen Maßnahmen scheinbar die Legitimation. Anders gesagt: Nicht alle Maßnahmen, die wir im vergangenen Jahr für angemessen hielten, als wir noch keinen Impfstoff hatten, wären heute aus der aktuellen Sicht noch richtig.

(Beifall bei der SPD)

Recht haben und recht behalten ist dieser Tage also nicht einfacher geworden.

Die Coronapandemie und unser guter, weil lernender Umgang mit diesem Virus macht uns deutlich, dass wir bereit sein müssen, dazuzulernen und das auch anderen zuzugestehen. Wir sind dazu bereit.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass viele, die meisten, mit viel Anerkennung auf das Dazulernen von Joshua Kimmich reagiert haben. Denn es ist doch beeindruckend, es ist eine Leistung, seine Meinung zu revidieren und zu sagen: Ja, vielleicht habe ich mich getäuscht. Ich habe jedenfalls dazugelernt und etwas verstanden, was mir bisher verschlossen war.

(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Manch einer, manch eine hat sich verirrt im Dickicht der wilden Geschichten über Corona. Es gibt ein Raunen über die ganz große Verschwörung, und manche wissen dann gar nicht mehr, was sie glauben sollen. Familien zerbrechen über diesen Geschichten. Andere stehen der Wissenschaft schon immer skeptisch gegenüber, weil sie in Stellung gebracht wurde gegen ihre Philosophie. Aber, liebe Leute, hier geht es nicht um Philosophie; hier geht es um Menschenleben. Bitte, gebt euch einen Ruck, und lasst euch impfen!

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Milliarden Menschen haben es getan und sind dadurch vor einer schwerwiegenden Erkrankung geschützt.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Politik muss ihre Entscheidungen erklären, muss begründen, muss rechtfertigen, und das Parlament ist genau der richtige Ort dafür. Gleichzeitig stellen wir uns natürlich dem Austausch mit der Wissenschaft, mit den Medien und auch der Debatte mit einer kritischen Öffentlichkeit. Aber am Ende der Debatte treffen wir die Entscheidungen. Wir tragen dazu bei. Wir tragen die Verantwortung, und wir sind dann dafür zu kritisieren, nicht Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, nicht Journalisten und Journalistinnen. Klar, wer sich engagiert, wer seinen Kopf rausstreckt, egal ob in der Wissenschaft, im Journalismus oder in der Politik, der muss Kritik und Widerspruch aushalten, aber der muss sich auch auf den Schutz des Rechtsstaats verlassen können. Auch dafür steht diese Koalition; denn die Attacken, die nicht nur Politiker/-innen, sondern auch Wissenschaftler/-innen und Journalist/-innen derzeit von rechtsradikalen Querdenkern erleben müssen, sind inakzeptabel.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir erleben Beleidigungen. Wir erleben Drohungen im Netz und ganz analog. Wir haben erlebt, dass Hass und Hetze in schrecklichen Taten enden können, bis hin zu Mord und Totschlag. Wenn Kamerateams bei den sogenannten Spaziergängen ihrer Arbeit nur noch mit Sicherheitspersonal nachgehen können, wenn Fackelmärsche vor Privatwohnungen veranstaltet werden mit dem Ziel, uns und unsere Familien einzuschüchtern, dann können und dann werden wir uns das nicht gefallen lassen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Wir müssen es klar beim Namen nennen: Diese kriminellen Übergriffe treffen zwar einzelne Personen, aber gerichtet sind sie gegen die Demokratie. Hier geht es längst nicht mehr um gesundheitspolitische Fragen; hier geht es um die Systemfrage.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Und das sage ich den Spaltern hier im Parlament und den Trollen im Netz genauso wie diesen Fackelträgern: Ihr macht unsere Gesellschaft nicht kaputt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Diese Koalition und die Parteien, die sie tragen, werden jeden Tag hart arbeiten, für ein besseres Leben der Menschen, für gerechten Fortschritt und für das, was unsere Gesellschaft zusammenhält: Vertrauen und Respekt.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Vielen Dank, Frau Kollegin Esken. – Nächster Redner ist der Kollege Jürgen Trittin, Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7532730
Wahlperiode 20
Sitzung 8
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung durch den Bundeskanzler
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