Nils SchmidSPD - Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zur aktuellen Lage
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einer persönlichen Bemerkung beginnen. Im September 1989 habe ich am ersten Schüleraustausch einer westdeutschen Stadt mit Unterbringung in Familien teilgenommen. Das war in Poltawa, damals Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik. Damit gehöre ich einer Generation an, die in den letzten 30 Jahren versucht hat, die beiden Hälften des Kontinents enger zusammenzubringen: über Schüleraustausch, über wirtschaftliche, über zivilgesellschaftliche Verflechtungen, natürlich auch über viele politische Weichenstellungen, wie sie in den letzten 30 Jahren über Abrüstungsverträge, Kooperationsverträge und Ähnliches zustande gekommen sind. Eine Generation ’89 sozusagen, die sich in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Medien in den letzten 30 Jahren dafür eingesetzt hat, dass wir in Ost und West, auf dem ganzen Kontinent, ein friedliches Miteinander, eine gesamteuropäische Friedensordnung, aufbauend auf Demokratie und Freiheit, schaffen.
Mit dem Angriffskrieg von Putin auf die Ukraine ist nicht nur eine Zeitenwende eingetreten. Es ist auch das Ende der Hoffnung einer ganzen Generation, die nicht von ’68 und der Nachrüstungsdebatte geprägt ist, sondern eben von der Zeitenwende ’89 und dem Aufbruch hin zu unseren osteuropäischen Partnern. Deshalb ist dieses Ereignis, dieser Einschnitt in unsere europäische Geschichte so bitter für viele aus meiner Generation.
Wir spüren ganz genau, was das jetzt auch für das praktische außenpolitische Handeln bedeutet. War bislang „Dialog und Abschreckung“ die Parole, wird es doch wieder mehr „Abschreckung und Dialog“ sein. In der Vergangenheit, in den letzten 30 Jahren, gab es drei Elemente, mit denen wir es geschafft haben, den europäischen Kontinent zusammenzubringen: gemeinsame Regeln im Rahmen der OSZE, der wirtschaftliche Austausch und die Verflechtung sowie die Zivilgesellschaft. Diese drei Elemente werden wir auch noch in Zukunft brauchen.
Wir sollten gemeinsam im Deutschen Bundestag dafür kämpfen, die Kanäle gerade auch nach Russland aufrechtzuerhalten. Aber sie werden deutlich weniger Bedeutung haben. Sie werden zum Teil, wenn wir uns die Wirtschaft anschauen, in Zukunft fast keine Bedeutung mehr haben können. Deshalb ist es jetzt wichtig, nicht nur das Heute zu sehen und über kurzfristige Waffenlieferungen oder Ähnliches zu reden, sondern wir müssen uns darauf einstellen, dass wir in einer anderen Politikmischung mit Russland in den nächsten Jahren umgehen müssen, dass eben Abschreckung stärker wird und leider die Elemente, die wir die letzten 30 Jahre gepflegt haben, weniger bedeutsam werden, dass Resilienz deutlich wichtiger wird und dass wir vor einer Daueraufgabe stehen, diese russische Herausforderung, wie sie Putin uns formuliert hat, wirklich zu bestehen.
Trotzdem – und das soll mein Appell zum Schluss sein –: Lassen Sie uns die wenigen Dialogkanäle gerade auch nach Russland und in die Gesellschaft hinein nicht aufgeben! Denn es wird auch ein Russland nach Putin geben.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Vielen Dank, Herr Kollege Schmid. – Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Hellmich, SPD-Fraktion.
(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7534057 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 19 |
Tagesordnungspunkt | Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundeskanzler zur aktuellen Lage |