16.03.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 20 / Zusatzpunkt 3

Alexander Graf LambsdorffFDP - Aktuelle Stunde - Lage in der Ukraine angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands

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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In ihrem Essayband „Wahrheit und Lüge in der Politik“ schildert Hannah Arendt, wie in der sowjetischen Geschichtsschreibung Manipulation dazu diente, angebliche Wahrheiten zu erzeugen, die mit den wirklichen Tatsachen nichts zu tun haben. Es scheint, als habe sich der russische Präsident in genau diese Tradition gestellt: Er benutzt Geschichte als Ideologieersatz, ja als Waffe und manipuliert sie dazu nach Belieben.

Mit der Lüge, das Land entnazifizieren zu wollen, hat Putin die Ukraine am 24. Februar 2022 rücksichtslos überfallen. Mit der Lüge, es handele sich um eine Spezialoperation, versucht er, die Wahrheit eines großen Landkrieges vor seinem eigenen Volk zu verbergen. Mit der Lüge, die Opposition schwäche Russland, drangsaliert er Demokraten, Journalistinnen und Aktivisten, die vergiftet, weggesperrt, ja ermordet werden.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich das so klar sagen: Wer dieser Tage wahre russische Patrioten sehen will, der darf nicht im Kreml suchen, der muss in die jetzt geschlossenen Redaktionsstuben von Doschd und „Nowaja Gaseta“ schauen, im Schauprozess auf den Angeklagten Alexej Nawalny und in die Gesichter der Demonstrantinnen und Demonstranten, die im Angesicht jeden Tag drohender Verhaftung dem russischen Diktator die Stirn bieten.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind die wahren Patrioten, sie schreiben die ehrenvolle Geschichte ihres Landes; denn sie lehnen den verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine rundheraus ab.

Doch Putin wiederholt – immer wieder –, er wolle die Ukraine „entnazifizieren“. Diese Ukraine, die von einem Präsidenten aus einer jüdischen Familie derzeit so großartig regiert und repräsentiert wird, einem Präsidenten, der zahlreiche Verwandte im Holocaust verloren hat, einem Präsidenten, der eine gesellschaftspolitisch liberale Agenda verfolgt, anders als Russland, das immer intoleranter und repressiver regiert wird, diese Ukraine, meine Damen und Herren, die muss niemand entnazifizieren.

(Beifall bei der FDP, der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Diese Ukraine ist ein großer Nachbar der Europäischen Union, der bei allen Problemen doch immer wieder demokratische Wahlen abgehalten und friedliche Machtwechsel vollzogen hat – ein demokratisches Land mit anderen Worten. Die Ukraine ist ein Land, in dem die Presse die Regierung kritisieren, ja verspotten darf, in dem Demonstrationen erlaubt sind und Aktivisten nicht weggesperrt werden – ein freies Land mit anderen Worten.

Demokratie und Freiheit, für diese Werte, für westliche Werte, für unsere Werte sterben jeden Tag Menschen in der Ukraine. Wir alle sehen das Leid der Menschen in Kiew, in Charkiw und vor allem in Mariupol wie auch in anderen Teilen des Landes. In unseren Nachrichten ist von Panzerkolonnen, Kampfflugzeugen, Marschflugkörpern die Rede. Sogar die real nie verschwundene Realität der nuklearen Bedrohung taucht im Bewusstsein wieder auf.

Es ist kein Wunder, dass hier bei uns in Deutschland viele Menschen schockiert, verängstigt und aufgewühlt auf diese Ereignisse blicken. Wie oft wurde es doch in den vergangenen Jahren als Sonntagsrede belächelt, wenn jemand auf den Wert des Friedens, des einigen Europas und unsere Einbettung in das Atlantische Bündnis als Garantien unserer Freiheit und unserer Demokratie hinwies. Schlagartig verstehen viele, wie wichtig Allianzen, Bündnisse, Vertrauen, ja, sogar Freundschaften zu anderen Ländern wie zu Frankreich und den USA sind.

Manche hatten das schon früher verstanden. Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck fragte nach der Annexion der Krim und dem russischen Einmarsch in der Ostukraine 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz – ich zitiere –:

Hat Deutschland die neuen Gefahren und die Veränderung im Gefüge der internationalen Ordnung schon angemessen wahrgenommen? … Ergreift die Bundesrepublik genügend Initiative, um jenes Geflecht aus Normen, Freunden und Allianzen zukunftsfähig zu machen, das uns doch Frieden in Freiheit und Wohlstand in Demokratie gebracht hat?

Acht Jahre ist das her, und seien wir ehrlich: Warnende Stimmen, die sich in den letzten Jahren kritisch mit Putins Politik und der realen Gefahr eines Zusammenbruchs unserer internationalen Ordnung auseinandergesetzt haben, wurden nicht gehört.

Sechs Jahre nach diesen Fragen des Bundespräsidenten, sechs Jahre nach dem sogenannten Münchner Konsens sprach der Bericht der Münchner Sicherheitskonferenz von einer weltpolitischen Zeitenwende. Die Autoren sagten klar, was Europa tun müsse im Angesicht wachsender russischer Aggression, und zwar Verteidigung und Abschreckung stärken, Resilienz aufbauen. Doch das ist auch 2020 nicht geschehen. Die Fragen von Joachim Gauck waren vergessen, der Münchner Konsens verpufft.

Das ist, meine Damen und Herren, heute anders. Die Bundesregierung hat ausweislich der Rede des Bundeskanzlers vom 27. Februar die Tatsache der Zeitenwende erfasst und aus ihr eine politische Wende gestaltet. Wir sind eng mit unseren internationalen Partnern zusammengerückt. Russland wird durch harte Sanktionen wirtschaftlich, finanziell und politisch isoliert. Wir liefern Waffen in ein Kriegsgebiet. Wir unterstützen die Ukraine. Und wir versetzen die Bundeswehr endlich wieder in den Stand, ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe nachzukommen.

Meine Damen und Herren, machen wir uns nichts vor: Der heiße Krieg in der Ukraine ist Teil eines größeren globalen kalten Krieges – der Auseinandersetzung zwischen Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie einerseits, Unterdrückung, Willkür und Diktatur andererseits. So sind die Tatsachen, und keine Lüge des russischen Präsidenten kann uns vom Gegenteil überzeugen. Deutschland wird Kurs halten, zusammen mit den anderen freien Nationen, die unsere Werte teilen.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir bleiben bei der Wahrheit. Wir weisen die Lüge zurück. Wir stehen heute und in Zukunft fest an der Seite der Ukraine. Slawa Ukrajini!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Für die Fraktion Die Linke erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Dietmar Bartsch.

(Beifall bei der LINKEN)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7534144
Wahlperiode 20
Sitzung 20
Tagesordnungspunkt Aktuelle Stunde - Lage in der Ukraine angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands
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