Daniel BaldySPD - Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit
Ich hätte jetzt gerne dem Kollegen Hartmann den Vortritt gelassen; aber wenn Sie das so wünschen, dann richte ich mich da natürlich nach der Präsidentin.
Entschuldigung, mir wurde mitgeteilt, dass Sie beide getauscht haben. Sie können das machen, wie Sie wollen.
Jetzt bin ich ja schon hier.
Jetzt sind Sie schon da. Dann machen wir es so. – Bitte schön, Herr Baldy.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Gerade gestern habe ich mit Noel Firmenich von der Jugendvertretung Bingen in meinem Wahlkreis telefoniert. Noel ist einer von vielen engagierten jungen Menschen, wie Sie sie gewiss auch aus Ihren eigenen Wahlkreisen kennen. Obwohl er sich einbringt, seine Stadt mitgestaltet und Verantwortung übernimmt, versteht er nicht, warum wir jungen Menschen in Deutschland nicht mehr zutrauen, indem wir ihnen das Wahlalter ab 16 zusprechen.
Aber Noel geht es nicht nur darum, wählen zu dürfen. Für ihn ist klar, dass mit einem früheren Wahlalter auch die politische Bildung in unseren Schulen früher beginnen muss. Und deshalb sage ich auch als Sozialkundelehrer: Bereits in den Schulen müssen frühzeitig das politische System und unser Wahlrecht vermittelt werden. Solange man im Wahllokal am Wahlsonntag noch Sätze hört wie: „Für was ist noch mal die Erststimme da?“, so lange ist auch die politische Bildung noch nicht am Ziel.
(Beifall bei der SPD)
Es muss aber auch einen Auftrag an uns Politikerinnen und Politiker geben, vom Gemeinderatsmitglied in meinem Heimatort Münster-Sarmsheim bis hin zum Bundeskanzler Olaf Scholz hier in Berlin: Wir müssen Politik nahbarer machen, wir müssen auf junge Menschen zugehen, wir müssen mit ihnen auf Augenhöhe sprechen, und wir müssen sie für die Themen begeistern, für die wir selbst brennen, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Lassen Sie uns Noel und den vielen anderen jungen Menschen das Vertrauen geben, das sie verdienen. Lassen wir sie mitbestimmen, mitentscheiden, sich einbringen und ihrer Stimme Gewicht geben. Lassen Sie uns gemeinsam das Wahlalter mit 16 auf die Schiene bringen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Doch nicht nur beim aktiven Wahlrecht bedarf es eines echten Aufbruchs und Fortschritts. Auch beim passiven Wahlrecht besteht Handlungsbedarf. Denn 103 Jahre nachdem Frauen bei der Wahl zur Weimarer Nationalversammlung erstmals an die Urne treten durften, liegt der Anteil von Frauen im aktuellen Bundestag bei gerade einmal 34 Prozent. Das darf so nicht bleiben, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen!
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Als ich vor elf Jahren in die SPD eingetreten bin und bei den Jusos aktiv wurde, habe ich nicht verstanden, wofür es eine Quote braucht; denn schließlich stand doch allen alles offen. Männer und Frauen sind gleichberechtigt, und damals gab es auch noch eine Frau als Kanzlerin. Aber mit der Zeit habe ich auch festgestellt: Es sind die Männer, die häufiger sprechen. Bei Listenaufstellungen sind es eher die Herren, die ihren Hut für vordere Plätze in den Ring werfen, und Sitzungen finden zu Zeiten statt, die alles andere als familienfreundlich sind.
All die schönen Worte der letzten Jahre, die wir zu diesem Thema gehört haben, haben daran leider nichts geändert: 34 Prozent der Abgeordneten im Bundestag sind Frauen, in den Landesparlamenten sind es rund 30 Prozent und in Kommunalparlamenten zuweilen sogar nur 15 Prozent. Dies zeigt unmissverständlich: Fehlende Parität ist kein alleiniges Problem des Deutschen Bundestages; es ist ein strukturelles Problem in deutschen Parlamenten. Strukturelle Probleme werden wir nur mit strukturellen Veränderungen verbessern. Eine dieser Änderungen ist ein paritätisches Wahlrecht, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Nun fragt sich vielleicht der ein oder die andere zum Beispiel: Was sind denn die konkreten strukturellen Probleme, die eine Benachteiligung bewirken? Eine Befragung von 800 Politikerinnen und Politikern durch die Europäische Akademie für Frauen in Politik und Wirtschaft Berlin – einige von Ihnen wurden vielleicht ebenfalls dazu befragt – liefert uns aufschlussreiche Antworten. 75 Prozent der Befragten gaben an: Termine im Zusammenhang mit dem Mandat liegen oft zu Zeiten, die man lieber im Kreis der Familie verbringe. 66 Prozent gaben an, die Art der politischen Diskussion und Auseinandersetzung schrecke Frauen ab. 65 Prozent gaben an, Frauen müssten höhere Erwartungen erfüllen als Männer.
Ein paritätisches Wahlrecht gleicht diese Benachteiligungen zwar aus, es schafft sie aber nicht ab. Daher gilt auch bei der Parität: Die Wahlrechtsreform ist nicht das Ende; nein, sie muss der Anfang unserer Bemühungen sein. – Das ist unser Auftrag, liebe Kolleginnen und Kollegen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Deshalb müssen wir hier im Parlament auch darüber sprechen, wie wir die Arbeit hier besser, familienfreundlicher gestalten können und wie die Vereinbarkeit von Kind und Karriere für alle Väter und Mütter besser gelingt.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, eine Quote ist nicht die letzte Maßnahme zur Herstellung von Parität; nein, sie ist die erste Maßnahme zur Parität. Unser gemeinsames Ziel hier im Bundestag muss es sein, durch die gezielte Förderung von Frauen und durch Veränderungen in unseren Parteien die Quote überflüssig zu machen.
Lassen Sie mich als Feminist abschließend sagen: Es geht bei der Parität nicht um die Hälfte des Kuchens; nein, es geht um die Hälfte der Bäckerei, die Hälfte der Metzgerei und auch noch die Hälfte des Baumarkts. 103 Jahre nach Einführung des Frauenwahlrechts ist es Zeit, auch die Macht endlich gerecht zu teilen.
Vielen lieben Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Für die CDU/CSU-Fraktion erteile ich dem Kollegen Ansgar Heveling jetzt das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU – Enrico Komning [AfD]: Hoffentlich nicht noch ein Feminist!)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7534183 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 20 |
Tagesordnungspunkt | Kommission zur Reform des Wahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsarbeit |