Carsten Schneider - Vereinbarte Debatte - 30 Jahre Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Kollegin Connemann, ich finde, dass die Debatte bisher davon geprägt war, die Arbeit der Enquete-Kommissionen und auch die des Bundestages in Form einer Aufarbeitung und Versöhnung zu würdigen. Ich muss Ihnen sagen, dass ich die Zuspitzung, die Sie im Mittelteil Ihrer Rede bezogen auf den Kollegen Pellmann gemacht haben, nicht nur für falsch halte, sondern dass sie der Debatte insgesamt nicht würdig war, auch der ausdrücklichen Entschuldigung des Kollegen Pellmann und der Verantwortung seiner Partei nicht. Das, finde ich, gehört an diesem Punkt mit dazu.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Marc Jongen [AfD])
Da komme ich gar nicht mehr auf den Punkt mit den Blockparteien zu sprechen; das wäre viel zu billig. Ich bedanke mich vielmehr bei den Kolleginnen und Kollegen Merkel, Eppelmann, Thierse und weiteren, die heute alle da sind. Sie haben in den 90er-Jahren hier im Deutschen Bundestag, in der Öffentlichkeit die wichtige Aufarbeitungsarbeit zur SED-Diktatur geleistet. Sie haben die Basis dafür gelegt, dass wir gerade in Zeiten, wo wissenschaftliche Erkenntnisse zum Teil mit kruden Theorien infrage gestellt werden, eine gemeinsame Ausgangs- und Bewertungsbasis hinsichtlich des DDR-Staates, des SED-Unrechtsregimes haben. Das ist extrem wichtig, weil das zu einer Befriedung der Gesellschaft in Ostdeutschland beigetragen hat.
Frau Kollegin Budde hat vorhin exemplarisch an ihrer Familie deutlich gemacht, wie das in den 90ern war. Bei mir war es so, dass meine Mutter in gar keiner Partei war. Sie war nur im FDGB – das ist der Gewerkschaftsbund gewesen –, damit man ab und zu mal einen Urlaubsplatz bekommen hat. Aber gleich nach der Wende musste sie erst mal zusehen, dass sie, nachdem sie als Ingenieurin ihren Job verloren hatte, sich wieder etwas aufbaut, in dem Fall als Selbstständige mit einer Wäscherei.
Das war ein permanenter Druck, ein permanentes Ums-Überleben-Kämpfen. Das galt für viele Millionen Menschen, die Teil des Systems der DDR waren. Auch wir hatten einen Ausreiseantrag gestellt – natürlich nicht ich, aber meine Eltern. Trotzdem miteinander zu leben, Mitglied in einem Sportverein zu sein, gemeinsam Feste zu feiern – das war nicht ganz einfach. Aber es ist gelungen.
Das war eine sehr große Integrations- und Aufarbeitungsleistung. Es ging darum, von allen Seiten auch zu verzeihen und zu sagen, was ist, alles offenzulegen, auch die Stasiakten, alle Verbindungen etc. Es ging auch darum, gemeinsam dieses Land, diese Gesellschaft zu verbinden und miteinander zu leben.
Das ist, wie ich finde, angesichts der Dimension der Verletzungen, die viele Menschen davongetragen haben – Familien wurden getrennt, es gab Tote, es gab die Jugendwerkhöfe –, nicht nur nicht zu unterschätzen, sondern eine große soziale Leistung unserer Gesellschaft, die zudem unter großem ökonomischem Druck erbracht wurde.
(Beifall bei der SPD)
Dabei beziehe ich die Union ausdrücklich mit ein. Ich möchte das hier nicht als eine Zuspitzung verstanden wissen, sondern als etwas Verbindendes, auf das wir stolz sein können.
Der Bundestag hat in dieser Zeit mit den beiden Enquete-Kommissionen, aber auch mit den Entscheidungen für die Einrichtung der Stasiunterlagenbehörde, der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, aber auch den Entschädigungsgesetzen, die erst später kamen, die richtigen Weichen gestellt, um für die Zukunft erinnern zu können.
Das Erinnern für die Zukunft ist ein ganz entscheidender Punkt, weil nicht nur hier im Bundestag von denjenigen, die damals mitten im Leben standen, auch zu DDR-Zeiten, so viele nicht mehr da sind. Es sind natürlich noch einige da, aber viele sind mittlerweile keine Abgeordneten mehr. Die Schlüsse, dass Demokratie stets und ständig verteidigt werden muss und dass es immer auf jeden Einzelnen ankommt – der Kollege von den Grünen hat darauf hingewiesen –, wie er mit seiner Verantwortung und mit seinem Mitgefühl umgeht, müssen uns immer wieder prägen und sorgen so dafür – vor allem vor den aktuellen Herausforderungen –, dass wir nicht in eine totalitäre Gesellschaft abgleiten, sondern eine demokratische, offene Gesellschaft bleiben. Diese Herausforderungen sind nach zwei Jahren Corona und mit der jetzigen Kriegsangst größer, als sie wahrscheinlich in den 2000er- und in den 2010er-Jahren waren.
Ich möchte Sie hier im Bundestag einladen, dass wir die Erfahrungen, die viele Ostdeutsche, aber auch viele Westdeutsche, die nach Ostdeutschland gekommen sind, die den Wiederaufbau vorangebracht haben, miteinander teilen. Das alles hat dazu geführt, dass wir heute – ich habe es in einer Zeitung gelesen – von der „Boom-Region Ostdeutschland“ reden können, wobei das nicht eine Schlagzeile ist, die sich eine Werbeagentur ausgedacht hat, sondern begründet ist auf zwei großen Unternehmensansiedlungen.
Ich bedanke mich nochmals beim Wirtschaftsministerium, bei Robert Habeck, und bei den Kolleginnen und Kollegen aus dem Finanzministerium, dass die Mikroelektronikansiedlung in Magdeburg mit Intel gelingt. Ich bedanke mich auch bei der Landesregierung von Sachsen-Anhalt. Da werden am Ende über 20 000 Industriearbeitsplätze geschaffen. Wir werden in den nächsten Wochen in Brandenburg auch die Tesla-Fabrik einweihen können.
Das sind klare Signale, dass der Osten nicht nur boomt, dass es dort nicht nur sehr schön ist und dort sehr tapfere, aufrechte und kluge Menschen wohnen, sondern dass hier auch die Zukunft liegt. Ich möchte die Transformationserfahrungen, die viele aufgrund extremer Veränderungen in ihren Biografien erlebt haben, einbringen in dieses von der Koalitionsregierung – dazu zählt aber auch die letzte Bundesregierung, die Union war dabei – neu zu gründende Einheits- und Transformationszentrum.
Diese Erfahrungen können als Brückenschlag insbesondere für die Länder in Mittel- und Osteuropa dienen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben, die aber nicht wie die Ostdeutschen aus dem deutschen Bundeshaushalt im sozialen und ökonomischen Anpassungsprozess unterstützt worden sind. Ich glaube, dass das auch ein Brückenschlag sein kann, um das Unverständnis, das zumindest gegenüber einigen osteuropäischen Ländern in einigen Teilen Europas vorhanden ist, zu überwinden. Ich möchte Sie dazu einladen, das in den nächsten Monaten mit in die Gründungsphase einzubringen.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Jetzt hat Götz Frömming das Wort für die AfD-Fraktion.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7534284 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 21 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte - 30 Jahre Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur |