17.03.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 21 / Tagesordnungspunkt 13

Helge LindhSPD - Medien- und Kommunikationsbericht 2021

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Letztens kam eine Kunstlehrerin in eine Wuppertaler Schulklasse, begann ihren Unterricht, und ein junges Mädchen – die Eltern sind russisch – schilderte begleitend zu ihren Zeichnungen ihr Verständnis vom Krieg in der Ukraine, worauf der ganze Saal „Ukraine, Ukraine“ rief. Das Mädchen war völlig geschockt. – Was sagt uns diese Situation? Beim Nachforschen hat sich ergeben, dass die Familie des Mädchens in der Scheinwirklichkeit aufgewachsen ist, wie sie russische Leitmedien verbreiten – sie selbst ist dafür mitnichten verantwortlich, wenn, dann ihre Eltern, die Familie und die entsprechenden Medien –, während die Klassenkameraden durch ukrainische Medien geprägt waren und die Leitmedien, die wir hier wahrnehmen. Diese einen zunächst einmal erstarren lassende Situation zeigt das elementare Gewicht von Medien in der heutigen Landschaft und auch die Doppelgesichtigkeit.

Wir haben uns ja in Zeiten von Hate Speech, also Hassrede, und Desinformation daran gewöhnt, unsere Hoffnung komplett verloren zu haben, also die große Idee der Emanzipation der neuen Medienwelt, und das Negative zu sehen. Aber es gibt eben auch das andere, und auch das ist wieder hochaktuell in der Situation des Krieges.

Wahrscheinlich wird ein vor ein paar Stunden geführtes Interview in die Geschichte eingehen. Ein Journalist ging mit Vitali Klitschko, dem Bürgermeister von Kiew, durch die Stadt und fragte ihn auf Englisch, was er denn dazu sagen würde, dass in der Ukraine laut Putin ein Zielen, ein Targeting, nur auf militärische Ziele stattfinde. Antwort von Klitschko in unverwechselbarer Diktion: „Bullshit! – Sorry. Where is military target? Is this building military target?“ Und er zeigt auf einen Wohnblock, der komplett durch Bomben und Raketenbeschuss zerstört ist. – In diesem kleinen Moment steckt alles, die Macht von freiem Journalismus, von Aufklärung und auch die ganze Kraft der offenen, informierenden Medien. Nicht anders ist es mit dem Auftritt von Marina Owsjannikowa in einer Fernsehsendung, der ausgesprochen mutig war, begleitet von einem Social-Media-Video von ihr. Und ein weiteres Beispiel dafür ist das Auftreten von Selenskyj, dem es in einer Situation höchster Bedrohtheit und Ohnmacht mit einer sehr virtuosen Nutzung von Social Media gelingt, mit der Macht der Medien ein Gegengewicht zur Desinformation zu schaffen und letztlich den Aggressor Putin als schwach und erbärmlich dastehen zu lassen.

Das ist das emanzipatorische Potenzial von Medien, und ich glaube, das ist auch ein Hinweis, der uns in die Richtung führt, wie wir eine künftige Medienlandschaft und Medienordnung denken können. Der Kern dessen scheint mir Demokratie und demokratische Öffentlichkeit zu sein.

Vor nahezu ewigen Zeiten, Anfang der Sechziger, hat Habermas seine Habilitationsarbeit „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ geschrieben, und vor kurzer Zeit sah er sich aufgefordert, dies zu aktualisieren in der Ahnung, dass etwas verloren geht, weil der Qualitätsjournalismus nicht mehr die Leitfunktion hat aufgrund der Fragmentierung durch Plattformen, durch Social Media, dadurch, dass es häufig keine Quellenprüfung mehr gibt und dass in einer medialen Welt wie der heutigen nahezu jeder und jede Produzent und Produzentin ist, Autor und Autorin statt, verglichen mit der Vergangenheit, dem Buchdruck, Leser und Leserin.

Die pessimistische Antwort darauf ist, dass es keinen Ausweg gibt, dass es in dieser Situation keine Orientierung dagegen gibt. Ich halte diese Antwort für falsch. Die richtige Antwort scheint mir zu sein, dass wir alles tun müssen – und diese Möglichkeit haben Demokratien, auch Demokratien mit einem finanzstarken Staat –, um Qualitätsjournalismus zu unterstützen, und dafür auch neue Wege zur Unterstützung gehen müssen. Denn wir müssen uns wünschen, dass wir ein kritisches Korrektiv durch freie, unabhängige Medien und durch Qualitätsjournalismus haben.

Das Zweite, was wir brauchen, ist, dass wir nicht so pessimistisch über die vielen einzelnen Akteurinnen und Akteure im medialen Raum denken; denn sie selbst haben auch die Möglichkeit – mit entsprechender Medienethik, mit entsprechenden Regularien –, so etwas wie Redakteurinnen und Redakteure zu werden, die sich fragen: Ist diese Quelle geprüft? Ich halte einmal inne, bevor ich publiziere. Übertreibe ich jetzt? Geht es nur um den Effekt, oder ist es tatsächlich aufklärerisch? – Ich glaube, nein: Ich bin überzeugt, dass dieses aufklärerische Potenzial auch in der Welt der Social Media möglich ist, wenn wir uns eben nicht auf die Ökonomie der Aufmerksamkeit, auf die Macht der großen Plattformen verlassen, sondern wenn wir an ihre Gemeinwohlverpflichtung erinnern, indem wir grassroots-artig kooperative Plattformmedien unterstützen, indem wir unterstützen, dass Menschen nicht mehr Nutzerinnen und Nutzer im medialen Raum, auf Plattformen, in Netzwerken sind, sondern Bürgerinnen und Bürger werden. Das scheint mir der Kern zu sein. Die Schlüsselfrage ist: Wie machen wir aus Nutzerinnen und Nutzern Bürgerinnen und Bürger, und wie schaffen wir eine wirklich demokratische digitale Öffentlichkeit?

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das Wort hat der Abgeordnete Martin Renner für die AfD-Fraktion.

(Beifall bei der AfD)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7534363
Wahlperiode 20
Sitzung 21
Tagesordnungspunkt Medien- und Kommunikationsbericht 2021
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