Josip JuratovicSPD - Vereinbarte Debatte zum 30. Jahrestag des Kriegsbeginns in Bosnien-Herzegowina
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, jeder Krieg hat eine Vorgeschichte, und der Bosnien-Krieg war das Ergebnis des gesellschaftlichen und politischen Versagens des ehemaligen Jugoslawiens in den 80er-Jahren.
Während sich die kommunistische Spitze des Staates nicht einigen konnte, wie sie die Transition in eine demokratische Gesellschaft vollziehen soll und gleichzeitig die Macht erhalten kann, fand eine Anarchie in Ex-Jugoslawien in brutalster Form statt. Die Folge war: Die alten Machthaber mit Unterstützung der nationalistischen Bewegungen konnten unter dem Deckmantel „Selbstbestimmung der Völker“ den Regimewechsel vollziehen und gleichzeitig ihr korruptes Dasein zum Teil bis heute erhalten. Der Preis dafür: Hunderttausende Tote und Millionen Vertriebene auf allen Seiten. – Das sagt uns, dass uns die Nationalisten im Unterschied zu Demokraten zwangsläufig, früher oder später, in den Krieg treiben.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Das hat leider auch die internationale Gemeinschaft seinerzeit nicht sofort erkannt, sondern sie hat vielmehr, je nach Konstellation, entweder versucht, den Zerfall Jugoslawiens aufzuhalten, oder unter dem Motto „Selbstbestimmung der Völker“ eine der Seiten eingenommen. Die Selbstbestimmung der Völker kann aber nur in einer multinationalen Gesellschaft funktionieren, wenn man gleichzeitig die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen zur Grundlage nimmt.
Vukovar in Kroatien schon vorher und später Sarajevo, Ahmici, Bugojno bis hin zum Genozid in Srebrenica waren jeweils ein Kolo des Grauens, währenddessen auf allen Seiten Kriegsverbrecher ihr Unwesen trieben. Kolo ist ein Volkstanz der Westbalkanvölker, bei dem man sich im Kreise dreht.
Nach dem Genozid in Srebrenica und während der Ohnmacht der internationalen Gemeinschaft schloss man das Dayton-Abkommen, mit dem man zwar das Grauen des Krieges beendete, aber dafür bis heute die korrupten Nationalisten anscheinend belohnte. Deswegen hat in Bosnien und Herzegowina bis heute keine Seite weiße Handschuhe an; leider oft auch wir selbst nicht.
„Demokratie statt Stabilokratie“ muss unsere Devise sein. Es ist enorm wichtig, dass wir aus der freien demokratischen Welt uns zur demokratischen Grundordnung in Bosnien und Herzegowina und auch auf dem Westbalkan bekennen und uns mit den demokratischen Kräften vor Ort aktiv solidarisieren. Wir müssen diese demokratischen Kräfte beim Aufbau der demokratischen Grundordnung sowie bei der Funktionalität der demokratischen Institutionen aktiv unterstützen. Dabei reicht es nicht aus, allein auf die zivile Gesellschaft zu bauen, sondern es müssen auch diesbezüglich die politische Entschlossenheit und die Geschlossenheit in der EU vorhanden sein.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vor allem aber darf es kein Handel mit den Nationalisten um unsere demokratischen Grundwerte geben; denn nur Demokraten aller Couleur, vernetzt auf dem Westbalkan, können den Frieden sichern und in die EU führen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Kolleginnen und Kollegen, das Allerwichtigste ist jedoch, dass wir unsere Einstellung in unseren Köpfen verändern.
Adis, dem heute mein besonderer Dank gilt – auch für diese Aktuelle Stunde hier –, aber auch Jasmina, ich, Luiza, Boris, Irene und viele andere Kolleginnen und Kollegen hier unter uns, die aus dem Westbalkan stammen, tun ihr Bestes für unsere gemeinsame Heimat Deutschland.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie des Abg. Thomas Erndl [CDU/CSU])
Es sind viele Serben, Kroaten, Bosniaken, Montenegriner, Nordmazedonier, Albaner unter uns in Deutschland und Europa, die friedlich Schulter an Schulter mit ihren persönlichen Fähigkeiten unser Land bereichern, ohne dass wir ihre nationalen Unterschiede erkennen.
Warum ist das in Deutschland und in der EU möglich und nicht auf dem Westbalkan? Meine Antwort darauf ist: Es liegt am System und nicht an den Menschen. Deshalb müssen wir gemeinsam mit den Menschen in Bosnien und Herzegowina und auf dem Westbalkan auf ihrem Weg in die EU das System ändern.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Das sind wir vielen tapferen Demokratinnen und Demokraten in Bosnien und Herzegowina und auf dem Westbalkan schuldig; denn spätestens Putins Angriff auf die Ukraine hat uns gezeigt, dass die Sicherheit des Westbalkans auch unsere eigene Sicherheit ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Die nächste Rednerin in der Debatte: Renata Alt, FDP-Fraktion.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7535092 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 27 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zum 30. Jahrestag des Kriegsbeginns in Bosnien-Herzegowina |