28.04.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 31 / Tagesordnungspunkt 10

Helge LindhSPD - Abschiebung von abgelehnten Flüchtlingen

Lade Interface ...
Anmelden oder Account anlegen






Frau Präsidentin! – Den Verfassungsschutz hat man Ihnen nicht auf den Hals gehetzt; Sie tragen ein riesiges Schild vor Ihrem Bauch, auf dem steht: Wir sind beobachtungswürdig. Bitte, Verfassungsschutz, guck auf uns!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Das ist die Realität. Und ich glaube, es sollte Ihnen zu denken geben, dass jede und jeder ehemalige Vorsitzende der AfD mittlerweile diese Partei aufgrund ihrer zunehmenden Radikalisierung verlassen hat. Das könnte etwas mit Verfassungsfeindlichkeit zu tun haben.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Lafontaine hat Sie auch verlassen!)

Nach diesen Vorbemerkungen möchte ich aber noch mal darauf hinweisen, dass – und Sie führen das wieder vor – die AfD im Selbstwiderspruch beginnt und endet. Sie nennen ja diesen Antrag „Nationale Kraftanstrengung“, und Sie dachten: Das ist wahrscheinlich ein super Gag. Wir nehmen ein Zitat von Angela Merkel zur Frage der Abschiebungen. – Das ist aber höchst selbstwidersprüchlich, weil Sie die letzten fünf Jahre im Parlament nichts anderes gemacht haben, als auf erbärmliche, inakzeptable, unwürdige Weise unsere sehr respektable Altkanzlerin zu beschimpfen. Deshalb: Sehr peinlich, sehr instrumentalisierend und sehr dämlich!

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Zum Zweiten ist es auch wieder aus der Reihe „Selbstwiderspruch“, weil Sie ja einerseits sagen, Sie wollen die Zahl derjenigen, die sich hier vollziehbar ausreisepflichtig aufhalten, reduzieren. Sie wollen aber auch möglichst keine Flüchtlinge reinlassen; sie wollen Grenzkontrollen und geschlossene Grenzen. Andererseits ist aber darauf Ihr ganzes Leben aufgebaut. Das heißt: Sie brauchen geschäftsmäßig, berufsmäßig möglichst viele Geflüchtete und Flüchtlinge, die kommen. Auch deshalb bewegen Sie sich mal wieder im Selbstwiderspruch.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Und das Dritte ist: Sie berufen sich in dem Antrag in verschiedenen Teilen, im Übrigen auch im Begründungsteil, auf das Volk und weite Teile der Bevölkerung – ich werde das später noch ausführen –; am Ende sprechen Sie aber nur für sich selbst. Wenn man nur für sich selbst spricht, kann man nicht für das Volk sprechen. Es sei denn, man meint, man wäre das Volk. Das haben Sie aber eben auch wieder glänzend widerlegt.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Unlängst stand vor meinem Büro eine Gruppe von jungen Menschen, die Folgendes einte: Alle waren in Duldung; einer von ihnen war gerade aus der Abschiebehaft gekommen. Es war ein geeinter Kraftakt, um zu verhindern, dass er abgeschoben wird. Er hielt sich schon seit sechs, sieben Jahren in Deutschland auf, genauso wie all diejenigen, die neben ihm standen. Alle sind berufstätig, alle bestens integriert – ich mag dieses Wort nicht; es wirkt ein bisschen paternalistisch; aber ich verwende es, damit Sie es auch einigermaßen verstehen –, alle erfolgreich, alle seit vielen Jahren da und alle im Zustand der Duldung.

Ich halte mir jetzt folgendes Bild vor Augen: Ich sehe diese Gruppe junger Männer und Frauen vor meinem Büro – die Mehrheit von ihnen kam aus westafrikanischen Ländern –, und dann erlebe ich Sie. Und da muss ich an das in einem anderen Zusammenhang geprägte Zitat von Guido Westerwelle denken, nämlich: „anstrengungsloser Wohlstand“ und „spätrömische Dekadenz“.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Bernd Baumann [AfD])

Sie sind „anstrengungsloser Wohlstand“ und „spätrömische Dekadenz“, und diejenigen, die vor meinem Büro gestanden haben, sind Leistungsträgerinnen und Leistungsträger unserer Gesellschaft.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Diese Menschen dürfen nicht abgeschoben werden, sondern sie verdienen es, dank eines künftigen und möglichst schnell zu schaffenden Chancenaufenthaltsrechts und verbesserter Bleiberechtsregelungen hierbleiben zu können. Diese Menschen abzuschieben, ist nicht nur nicht human; es ist volkswirtschaftlich dumm, und es ist gesellschaftlich dämlich. Und wenn Sie es fordern, dann sind Sie hoffentlich ganz allein mit dieser Forderung.

(Zuruf des Abg. Dr. Bernd Baumann [AfD])

Um Ihnen das deutlich zu machen – Sie berufen sich ja auf die Gesellschaft und das Volk –, ist es hilfreich, Ihnen diese Gesellschaft, in der wir leben, mal vorzustellen. Nehmen wir mal den Fall einer drohenden Abschiebung; leider sind es nicht wenige Fälle, in denen eine Abschiebung überhaupt nicht berechtigt ist. Da kommen Menschen vorbei, die sich für andere einsetzen, wie zum Beispiel Marieke, eine Frau, die über den Tellerrand guckt, im buchstäblichen wie im abstrakten Sinne, die sich nicht nur um ihre eigenen Befindlichkeiten kümmert, sondern auch um das Schicksal von geflüchteten Menschen. Und es gibt viele wie sie: Nachbarn der geflüchteten Menschen, ein GdP-Engagierter, der nebenbei Sicherheitsberatung macht, diverse Journalistinnen und Journalisten, Kirchengemeinden, Nachbarschaften, ganze Schulklassen, Mitschülerinnen und Mitschüler eines Berufskollegs, Mitstudierende, ganz normale Leute, Unternehmerinnen und Unternehmer – ich könnte Ihnen Hunderte, ja Tausende aufzählen. Wenn Sie für das Volk sprechen und wir Lehrerinnen und Lehrer, Polizistinnen und Polizisten, Schülerinnen und Schüler, Kirchengemeinden abziehen, bleibt da nicht mehr so viel übrig.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Also was ist „das Volk“, für das Sie sprechen? Jedenfalls nicht die Bevölkerung dieses Landes. Weite Teile dieser Bevölkerung haben überhaupt nicht den Wunsch, dass wir einen Abschiebungsmaximalismus erleben, sondern die Mehrheit dieses Landes wünscht sich einen pragmatischen Umgang.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Das heißt nicht, dass die Mehrheit des Landes nicht akzeptiert, dass im Fall von Gefährdern und wirklichen Straftätern Abschiebungen erfolgen. Aber all diejenigen, über die Sie gesprochen haben, die Hunderttausenden, die kein Verfahren auf Anerkennung haben, die aber in dem unwürdigen Zustand der Kettenduldung leben oder sich in anderen Duldungsformaten bewegen, all diese brauchen eine Zukunft in diesem Land; denn sie sind schon Teil dieses Landes, und sie sind die Zukunft dieses Landes – anders als Sie.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Also: Diese Frau, diese Marieke, und die vielen anderen Mariekes dieser Welt, die solidarisch sind, sind dieses Deutschland. Dieses Deutschland sind aber auch Ali und Akram, um eine Syrerin und einen Syrer zu nennen, die sich jetzt aktiv für ankommende ukrainische Geflüchtete einsetzen. Das ist doch ein schönes Beispiel. Aber was machen Sie? Das haben Sie eben ja wieder vorgeführt: Sie wollen ankommende Ukrainerinnen und Ukrainer gegen muslimische Geflüchtete ausspielen. Was machen die Syrerinnen und Syrer? Die helfen. Sie von der AfD: kleinkariert. Die Syrerinnen und Syrer: ohne Scheuklappen, mit offenem Herzen, open-minded und solidarisch. Das ist ein großer Unterschied.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Und nicht nur das. Es kommt noch schlimmer: Die Ukrainerinnen und Ukrainer, für die Sie sich angeblich einsetzen – Unterstützung erfahren sie zum Beispiel von der Initiative „Stand with UA“, mit der ich in Wuppertal, in NRW engstens zusammenarbeite –, sind bestens befreundet mit muslimischen Geflüchteten und anderen. Die begreifen das als eine menschenrechtliche Aufgabe.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Stephan Thomae [FDP])

Die unterscheiden nicht zwischen sich und anderen. Die wollen nicht, dass Sie vermeintlich ihre Interessen vertreten.

Also: Für wen setzen Sie sich ein? Weder für die Bevölkerung dieses Landes noch für die Ukrainerinnen und Ukrainer oder für die Syrerinnen und Syrer. Sie sind verdammt allein mit Ihren Forderungen; darauf möchte ich Sie noch mal hinweisen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Dann noch ein weiterer Punkt. Sie machen ja eine Kostenrechnung auf: Was kostet das alles? Dabei vergessen Sie aber, was Hunderttausende von Abschiebungen kosten würden. Wissen Sie, was eine einzelne Sammelabschiebung kostet, mit welchem Aufwand die verbunden ist? Denken Sie mal darüber nach!

Aber ich mache eine Gegenrechnung auf: Was kosten Sie denn uns?

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Alexander Graf Lambsdorff [FDP])

Was kosten die diversen Gerichtsverfahren gegen die AfD? Was kosten Diäten und sonstige Zahlungen an Abgeordnete in Landesparlamenten und im Bundestag?

(Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Der Verfassungsschutz!)

Was kosten ganze Abteilungen des Verfassungsschutzes, die nichts anderes zu tun haben – leider –, als sich mit Ihnen zu befassen? Diese Gegenrechnung möchte ich mal sehen, und ich bin gespannt, was dabei rauskommt.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Wir, diese Koalition – ich spreche auch für meine Fraktion –, sind lernfähig. Wir gucken uns die Dinge an und korrigieren in Zukunft auch Dinge, die nicht richtig waren, zum Beispiel die Duldung von Personen mit ungeklärter Identität, bekannt als „Duldung light“,

(Beifall der Abg. Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Sandra Bubendorfer-Licht [FDP])

weil wir auch bereit sind, Fehlerkultur – das ist etwas, was Sie überhaupt nicht kennen; „Fehler“ ist für Sie ein Fremdwort – zu betreiben, und weil wir uns ganz streng daran orientieren, was menschlich ist, was pragmatisch ist und was angebracht ist. Ihr Spiel des Gegeneinanderausspielens, des Kostenverrechnens, –

Kollege.

– des Versuchs, Gewinne auf Kosten anderer zu erzielen, das wird nicht gelingen. Das funktioniert jetzt nicht, und das wird nie funktionieren. Game over!

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)

Das Wort hat der Kollege Josef Oster für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU – Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Blasen Sie nicht ins selbe Horn wie die AfD!)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7535629
Wahlperiode 20
Sitzung 31
Tagesordnungspunkt Abschiebung von abgelehnten Flüchtlingen
00:00
00:00
00:00
00:00
Keine
Automatisch erkannte Entitäten beta