28.04.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 31 / Tagesordnungspunkt 10

Hakan DemirSPD - Abschiebung von abgelehnten Flüchtlingen

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Drei Anmerkungen vorab. Vor Wochen habe ich einen Antrag gelesen, der in etwa so hieß: EU-Flüchtlingspolitik voranbringen, aber nicht auf Kosten Deutschlands. – Ich muss sagen, dass ich erst mal nicht auseinanderhalten konnte, ob dieser Antrag von der AfD oder einer anderen Partei kam. Das hört sich zumindest für mich nicht nach Mitte an, und das finde ich erst mal schade. Das vorab.

(Zuruf des Abg. Alexander Throm [CDU/CSU])

Der zweite Punkt bezieht sich auf die Pull-Faktoren, von denen wir gerade gehört haben. Sie glauben doch nicht wirklich, dass die Menschen hier nach Deutschland kommen, weil unsere Sicherungssysteme so sind, wie sie sind.

(Lachen bei Abgeordneten der AfD – Beifall des Abg. Kay-Uwe Ziegler [AfD])

Sie kommen nach Deutschland, weil sie vor Krieg fliehen. Das haben sie aus Syrien so gemacht, und das machen sie auch aus der Ukraine.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Ich sehe zwischen Menschen aus beiden Staaten keinen Unterschied.

(Josef Oster [CDU/CSU]: Um die geht es heute ja auch nicht! Um die geht es heute gar nicht!)

– Ich sage es einfach mal.

Dann ganz kurz der dritte Punkt, weil der oder die Sonderbevollmächtigte für Migrationsabkommen ab und zu genannt worden ist, was richtig ist. Diese Person soll aber nicht nur eine Rückführungsoffensive starten, sondern sie soll auch darauf achten, dass die Menschen in den Herkunftsländern wieder integriert werden können, und sie soll natürlich auch überprüfen, wie man Möglichkeiten schaffen kann, legal nach Deutschland zu kommen, Stichwort „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“. Wir verstehen die Aufgaben also breiter.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Josef Oster [CDU/CSU]: Versteht das die FDP auch so?)

– Es steht so im Koalitionsvertrag; aber wir können sonst noch mal mit Stephan Thomae sprechen.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Selber noch mal lesen!)

Zumindest eine Fraktion tut in ihrem Antrag so, als ob geduldete Menschen überhaupt keine Rechte hätten. Nein, sie haben Rechte. Bei der Duldung handelt es sich um eine Aussetzung der Abschiebung, und dafür gibt es gute Gründe. Einige haben wir gehört. Ich nenne nur mal drei. Der erste Punkt. Die Sicherheitslage in dem Heimatland oder auch dem EU‑Land, in das die Menschen zuerst eingereist sind, ist prekär. Der zweite Punkt ist schwere Krankheit, sodass die Rückführung nicht möglich ist. Der dritte Punkt ist das, was wir mit der Union eingeführt haben und was wir verbessern wollen, nämlich die Ausbildungs- und Beschäftigungsduldung. Die Menschen haben also auch gute Gründe, hierzubleiben, und das ist auch gut so. Wir halten daran fest, dass Menschen nicht in Länder abgeschoben werden, in denen für sie die Gefahr besteht, Opfer eines Krieges oder eines bewaffneten Konflikts zu werden. Wir werden Menschen nicht in Perspektivlosigkeit und Lebensgefahr abschieben.

(Zuruf des Abg. Dr. Götz Frömming [AfD])

Und ich sage Ihnen auch: Es gibt nicht nur humanitäre Gründe für meine Position.

Im Innenausschuss bin ich für meine Fraktion auch für das Einwanderungsgesetz zuständig. Wir alle wissen: Die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit gehen allmählich in den Ruhestand. Bereits bis 2030 werden 3,9 Millionen Menschen fehlen, bis 2060 sind es sogar über 10 Millionen Menschen. Vor diesem Hintergrund ist es mehr als sinnlos, Menschen aus den Schulen, aus den Betrieben, Menschen, die hier angekommen sind, hier einen Mittelpunkt gefunden haben, zurückzuführen. Das wollen wir als SPD einfach nicht mehr.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in meinem Wahlkreis, in Neukölln, hatten wir den Fall einer syrischen Familie. Sie war ursprünglich nach Rumänien geflohen, aufgrund des unzureichenden Asylsystems dort aber weiter nach Deutschland eingereist. Nach mehrmaliger Duldung und einer insgesamt vierjährigen Wartezeit hier in Deutschland sollte sie wieder nach Rumänien zurückgeführt werden. Nach aktueller Rechtslage ist das korrekt. Aber was ist in der Zwischenzeit passiert? Die Familie ist hier angekommen. Eine Tochter hat gerade ihre Gymnasialempfehlung bekommen. Ihr Bruder engagiert sich in einem Kunstförderprogramm, kümmert sich um die Finanzierung des Vereins, lernt jetzt, nachdem er fließend Deutsch spricht, auch noch Japanisch und steht kurz vor dem Abschluss der zehnten Klasse. Als dem Vater mit der Duldung erstmals eine Arbeitserlaubnis ausgestellt wurde, fand er innerhalb eines Monats einen Job als Lagerarbeiter. Dank des ehrenamtlichen Einsatzes vieler Menschen in Neukölln – ich sage noch mal Danke dafür – und der Entscheidung der Härtefallkommission darf die Familie hier bei uns bleiben. Aber Härtefallkommissionen sind nicht die Lösung.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])

Deshalb werden wir mindestens drei Dinge voranbringen: Wir werden Arbeitsverbote für geflüchtete Menschen abschaffen. Wir werden es fliehenden Menschen möglich machen, im Asylverfahren einen Aufenthaltstitel zu erhalten, und wir werden Menschen mit dem Chancenaufenthaltsrecht eine Chance geben, hierzubleiben. Oder anders ausgedrückt: Wir wollen keine Abschiebung von Menschen aus ihrer Arbeit oder Ausbildung. Wir wollen keine Abschiebung von Schulkindern, die keine andere Sprache sprechen als Deutsch, und wir wollen keine Abschiebung von Menschen, die ein Teil dieser Gesellschaft geworden sind.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie der Abg. Clara Bünger [DIE LINKE])


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7535642
Wahlperiode 20
Sitzung 31
Tagesordnungspunkt Abschiebung von abgelehnten Flüchtlingen
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