11.05.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 33 / Tagesordnungspunkt 4

Stephan ThomaeFDP - Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. Par. 64 StGB

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wenn Straftäter nicht im Gefängnis landen, sondern in einer psychiatrischen Einrichtung, dann sorgt das bei den Opfern einer Straftat, bei Betroffenen, auch in der Öffentlichkeit oft für Unverständnis. Aber man muss sich einfach vor Augen halten, dass es im Strafverfahren erst sekundär um Genugtuung für das Opfer und für die Öffentlichkeit geht und um Opferentschädigung.

Es geht im Strafverfahren primär um Wahrheitsfindung, darum, herauszufinden: Wie war der wahre Tathergang, also der objektive Tatbestand? Und was für eine innere Motivlage hat den Täter zur Tat gebracht? Der subjektive Tatbestand, auch Fragen der Schuldfähigkeit, des Urteilsvermögens und der geistigen Verfassung des Täters spielen da eine Rolle.

Beim Strafvollzug ist Resozialisierung primär das Ziel. Es geht sicher auch um Satisfaktion, um Genugtuung für das Opfer, aber eben nicht durch drakonische Strafen. Der Täter wird immer noch als Mensch gesehen. Er soll eine Chance bekommen. Er soll die Gelegenheit erhalten, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern und ein Leben in sozialer Verantwortung ohne Straftaten zu führen.

Es unterscheidet uns von zahlreichen anderen Rechtsordnungen, dass der Rachegedanke bei uns zurückgedrängt ist und der Straftäter als Mensch gesehen wird, der seine Würde behält. Das verlangt uns manchmal viel ab, vor allem bei sehr schweren Straftaten. Es ist aber ein zivilisatorischer Fortschritt, meine Damen und Herren, eine der vornehmsten Errungenschaften unserer Rechtskultur.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Jessica Tatti [DIE LINKE])

Neben der Gefängnisstrafe sieht unsere Rechtsordnung für bestimmte Fälle auch noch vor, dass ein Verurteilter in einer psychiatrischen Einrichtung untergebracht werden kann. Das ist § 63 Strafgesetzbuch. Die Voraussetzung ist dann, dass trotz Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit ein Freispruch nicht in Betracht kommt, weil der Täter für die Allgemeinheit immer noch eine Gefahr darstellt, weil erwartet wird, dass er erneut weitere Straftaten begehen kann.

Einen Paragrafen weiter, in § 64 Strafgesetzbuch, haben wir jetzt den Fall eines Maßregelvollzuges, der eine straffällig gewordene Person davor bewahren kann, eine Haftstrafe antreten zu müssen. Dann können die Gerichte anordnen, dass eine straffällig gewordene Person, die einen Hang dazu hat, alkoholische Getränke oder auch andere berauschende Mittel zu missbrauchen, im Übermaß zu sich zu nehmen, unter bestimmten Voraussetzungen in einer Entziehungsanstalt unterbracht wird. Da gab es in den letzten Jahren eben eine deutliche Entwicklung dahin, dass immer mehr Menschen genau in diesen Entziehungsanstalten landen und dass ihre durchschnittliche Unterbringungsdauer dort immer länger wird.

Jetzt kommt das Problem: Wir haben nur eine begrenzte Anzahl solcher Therapieplätze in Deutschland und haben in vielen Bundesländern die Kapazitätsgrenzen bereits erreicht. Die Folge davon ist nun: Wenn ein solcher Straftäter keinen Therapieplatz bekommt, dann kann er aufgrund einer gerichtlichen Entscheidung nicht einfach eine Freiheitsstrafe antreten, sondern muss zunächst mal in Organisationshaft genommen werden, aber auch das nicht auf ewige Zeiten. Irgendwann muss er, wenn diese zu lange dauert, auf freien Fuß gesetzt werden. Dann haben wir die Situation, dass jemand, von dem das Gericht sagte, er stelle eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar, wieder auf freien Fuß kommt.

Das sind eben die 17 Fälle, von denen Kollege Müller sprach. In diesem Jahr mussten in Baden-Württemberg schon 17 Personen wegen Therapieplatzmangels aus Organisationshaft entlassen werden. Im letzten Jahr waren es 35 Fälle. Das ist ein eklatantes Problem, das wir ernst nehmen, angehen und lösen müssen.

Hintergrund ist der ungenau formulierte § 64 Strafgesetzbuch, der weite Auslegungsspielräume eröffnet und auch dem Missbrauch Tür und Tor öffnet. Es gibt sogar im Internet Tutorials, wie man einer Haftstrafe entgehen kann, indem man eine Suchtabhängigkeit als Grund dafür nimmt, in eine Entziehungsanstalt zu kommen und nicht in den Justizvollzug. Deswegen ist diese Bund-Länder-Arbeitsgruppe eingerichtet worden, die einen Gesetzesvorschlag vorgelegt hat. Jetzt hat die Union den Gesetzentwurf eins zu eins übernommen.

Immerhin zwei Lernerfolge stelle ich fest: Erstens. Die Union zitiert ihre Quelle; das ist nicht immer so gewesen.

(Zuruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU])

Zweitens. Sie folgen jetzt nicht einfach nur einem Strafverschärfungsreflex, sondern Sie nehmen sich Expertenrat zu Herzen. Auch das war in der letzten Wahlperiode nicht immer so. Ich denke zum Beispiel an die Abschaffung minderschwerer Fälle bei Sexualdelikten, oder ich denke an die Wiederaufnahme von Strafverfahren bei neuen Beweismitteln oder an das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche, wo oft nicht die Meinung des Expertenrates zählte. Sie haben oft genau das Gegenteil gemacht.

Ich komme zum Ende, Frau Präsidentin. Wir wollen evidenzbasierte Politik betreiben. Wir werden uns die Vorschläge der Arbeitsgruppe natürlich zu Herzen nehmen. Es bräuchte den Gesetzentwurf der Union eigentlich nicht, weil er keine neuen Erkenntnisse bringt, –

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Thomae.

– aber er enthält auch nichts Falsches. Deswegen freue ich mich auf die Beratungen im Ausschuss.

(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Mit Grüßen an Frau Koch-Mehrin!)

Dr. Volker Ullrich von der CDU/CSU-Fraktion ist der nächste Redner in der Debatte.

(Beifall bei der CDU/CSU)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7535936
Wahlperiode 20
Sitzung 33
Tagesordnungspunkt Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. Par. 64 StGB
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