Annika KloseSPD - Änderung des SGB II (Aussetzung der Sanktionen)
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Erst einmal ganz kurz zu Frau Tatti: Ich möchte Ihnen zugutehalten, dass es sich hier um die erste Lesung des Gesetzentwurfs handelt und Sie dementsprechend den aktuellen Diskussionsstand der Koalitionsparteien natürlich nicht kennen können.
(Jessica Tatti [DIE LINKE]: Ja, das ist auch bedauerlich!)
Da können Sie auf den Ausschuss kommende Woche und die Anhörung gespannt sein. Ich kann Ihnen aber so viel verraten: Zwölf Monate Sanktionsmoratorium werden kommen.
(Jessica Tatti [DIE LINKE]: Das steht aber nicht im Gesetz!)
Übrigens: Auch in dem Gesetzentwurf ist nicht enthalten,
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Wozu brauchen Sie ihn denn, wenn Sie ab 1. Januar das Bürgergeld einführen?)
dass es um eine Aufsummierung der Sanktionen nach den zwölf Monaten geht, sondern danach gehen wir zu dem neuen Bürger/-innengeld über. Natürlich werden dann die einzelnen Sanktionen aus der Zeit des Moratoriums nicht später verhängt.
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Wir diskutieren hier also Altpapier!)
Das möchte ich doch direkt klarstellen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Ich war Vorsitzende der Jusos in Berlin, des größten politischen Jugendverbands hier in dieser Stadt, und habe über Jahre daran mitgewirkt und dafür gekämpft, dass wir Hartz IV endlich hinter uns lassen.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Tatti?
Nein.
(Zuruf von der AfD: Feige! – Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das ist schon sehr auffällig, dass die Ampelkoalition jetzt schon drei Zwischenfragen nicht zulässt! Das ist wirklich undemokratisch!)
Die SPD hat das in ihrem Sozialstaatskonzept 2019 auch endlich zu ihrem Programm gemacht. Ich freue mich, dass ich jetzt als Berichterstatterin für meine Fraktion hier daran mitwirken kann, Hartz IV hinter uns zu lassen und das neue Bürger/-innengeld einzuführen.
Es ist richtig und höchste Zeit, dass die Ampelkoalition dieses Mammutprojekt endlich angeht, und es ist das richtige Projekt, die größte Reform des Sozialstaats der letzten 20 Jahre. Ich bin stolz darauf, dass wir das angehen. Es steht schon viel im Koalitionsvertrag; aber es ist auch klar: Es ist viel zu tun, und es gibt auch noch offene Fragen.
Mit einer offenen Frage wollen wir uns hier jetzt beschäftigen. Das sind die sogenannten Mitwirkungspflichten. Laut Koalitionsvertrag wird es Mitwirkungspflichten auch beim neuen Bürger/-innengeld geben. Aber, sehr geehrte Damen und Herren, es wäre falsch, die Mitwirkungspflichten rein auf die Sanktionen zu verkürzen. Ich möchte deswegen ein bisschen ausholen.
Es geht bei dem Bürger/-innengeld um ein Projekt, mit dem wir es schaffen wollen, unseren Sozialstaat am Individuum auszurichten. Es geht um Augenhöhe und Vertrauen zwischen den Bürger/-innengeldbezieherinnen und ‑beziehern und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Jobcenter. Wir wollen eine Teilhabevereinbarung einführen statt der Eingliederungsvereinbarung, die auf Augenhöhe erarbeitet werden soll – verständlich formuliert und am Ende im Konsens abgeschlossen. Wenn das nicht passiert, wenn es keinen Konsens gibt, dann soll es eine unabhängige Schlichtungsstelle geben, damit am Ende tatsächlich ein Vertrag auf Augenhöhe entsteht.
Wir wollen den Vermittlungsvorrang abschaffen. Das bedeutet, dass man eben nicht mehr jeden x‑beliebigen Job annehmen muss,
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Jetzt reden Sie auch über Gesetze, die noch gar nicht hier sind!)
und wenn man das nicht tut, dann wird man dafür sanktioniert. Nein, Schluss damit! Es geht um das, was das Individuum möchte: Wo soll es hingehen? Welche Tätigkeit möchte man in Zukunft ausüben? Welche Branche, welches Arbeitsverhältnis, welcher Umfang vielleicht auch? Ist es vielleicht eine neue Berufsausbildung, die man braucht? Ist es eine Weiterbildung, die man angehen möchte? All das und dieser Weg für das Individuum werden miteinander auf Augenhöhe ausgehandelt, und der gemeinsame Weg dahin wird gefunden.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Es geht also um eine Kultur auf Augenhöhe. Aber was ist, wenn sich jemand gar nicht mehr zurückmeldet, auf Dauer nicht erreichbar ist oder sich dem Prozess, der vereinbart wurde, komplett verweigert? Da sind wir an einem Punkt, den wir als Gesellschaft neu diskutieren müssen. Das sehe nicht nur ich so, sondern das hat auch das Bundesverfassungsgericht uns als Gesetzgeber mit auf den Weg gegeben.
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Nee! Genau das steht nicht im Urteil!)
Daher bin ich sehr froh, dass wir als Koalition jetzt mit diesem Sanktionsmoratorium den Raum eröffnen, um genau diese Debatte zu führen. An dieser Stelle möchte ich auch noch mal Danke sagen an Martin Rosemann, Dagmar Schmidt, Katja Mast und Hubertus Heil, die daran mitgewirkt haben, dass wir dieses Moratorium jetzt auch wirklich auf den Weg bringen können.
Das Moratorium setzt den Großteil der Sanktionen für zwölf Monate aus und markiert damit einen klaren Bruch zwischen den alten und den neuen Regelungen. Ich finde das wichtig; denn gerade die Sanktionen waren ja ein wichtiger Kritikpunkt gegenüber den Hartz‑IV-Gesetzen und den Regelungen dort. Einige Pflöcke für die neuen Regelungen sind bereits im Koalitionsvertrag verankert:
Erstens. Sanktionen auf die Kosten der Unterkunft werden nicht mehr stattfinden.
Zweitens. Es wird keine härteren Sanktionen für unter 25-Jährige mehr geben, sondern da werden wir verstärkt mit den Trägern der örtlichen Jugendhilfe zusammenarbeiten.
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Das steht alles nicht in diesem Gesetz, Frau Klose!)
Drittens sollen die ersten sechs Monate des Bürger/-innengeldbezugs eine Vertrauenszeit sein, nach unserer Vorstellung ohne Sanktionen.
Viertens soll aufsuchende Sozialarbeit zum Regelinstrument werden.
Dabei bleibt aber natürlich die Frage im Raum: Warum eigentlich Sanktionen? Welchen Sinn hat das, und wann ist es für uns als Gesellschaft eigentlich gerechtfertigt, Leistungen unterhalb des Existenzminimums zu kürzen? Bevor man hier über Höhe und Dauer dieser neuen Regelungen und Leistungskürzungen spricht, muss man doch genau diese Fragen diskutiert und geklärt haben.
Meiner Meinung nach kann eine Sanktion – wenn wir an diesem Instrument festhalten, das wir vereinbart haben – immer nur das allerletzte Mittel sein. Es gibt Jobcenter, die das genau so schon praktizieren und die damit sehr gute Erfahrungen machen. Da geht es nämlich darum, dass man, wenn jemand auf einen Brief nicht antwortet, mal eben anruft, und zwar nicht nur einmal, sondern zweimal oder dreimal, und, wenn jemand nicht ans Telefon geht, dann auch mal hingeht.
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der AfD)
– Sie lachen jetzt. Aber wissen Sie, warum das so ist? Weil viele Menschen, die aktuell tatsächlich von Sanktionen betroffen sind, die sich vielleicht nicht zurückmelden, das nicht tun, weil sie nicht wollen und sich verweigern, sondern weil sie eben zum Beispiel unter psychischen Erkrankungen leiden
(Kai Whittaker [CDU/CSU]: Ja, aber dann tun Sie doch was! Wenigstens dabei!)
oder große soziale Probleme haben.
Es geht genau darum, diese Menschen zu unterstützen
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
und ihnen Hilfe zu organisieren, wenn sie sie brauchen. Diese Menschen stehen dem Arbeitsmarkt nämlich eigentlich überhaupt nicht zur Verfügung. Es geht darum, dass sie Unterstützungsleistungen bekommen müssen und diese dann auch kriegen, und keine Sanktion.
Erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Kleinwächter aus der AfD?
Das tue ich nicht. Vielen Dank.
(Norbert Kleinwächter [AfD]: Schade!)
Sie sehen: Die Fragen der Mitwirkungspflichten sind doch groß zu diskutieren. Es ist genau der richtige Weg, sich dafür die Zeit zu nehmen und diese Fragen miteinander zu beantworten. Ich freue mich auf die Diskussionen, und ich freue mich darauf, dass wir eine Neuregelung finden, die Teilhabe, Augenhöhe und Respekt vor den sozialen Rechten eines jeden in den Mittelpunkt stellt.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Das Wort erhält für eine Kurzintervention die Kollegin Tatti.
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7536346 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 35 |
Tagesordnungspunkt | Änderung des SGB II (Aussetzung der Sanktionen) |