Nina ScheerSPD - Vereinbarte Debatte zum Thema Sterbehilfe
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mich hat jetzt doch noch mal der Satz aufgeschreckt: „Es darf nicht zur Normalität werden“, den Herr Thomas Rachel gerade gesagt hat. Man ist vielleicht geneigt, zunächst zu sagen: Okay, Normalität und Sterben, das wollen wir nicht zusammendenken. – Aber in „Normalität“ steckt auch Norm; es steckt auch Geregeltheit, es steckt auch etwas, das wir als Selbstverständnis in unserer Gesellschaft haben. Und der Tod und auch das selbstbestimmte Ausscheiden aus dem Leben gehören zur Normalität; das ist Norm.
Das hat das Bundesverfassungsgericht letztendlich auch normiert, indem es unser Grundgesetz ausgelegt hat in der Frage, was Selbstbestimmtheit in der Frage des Aus-dem-Leben-Scheidens heißt. Es hat mit klaren Kriterien formuliert, wann ein Recht zum selbstbestimmten Sterben und damit natürlich implizit auch Sterbehilfe zuzubilligen ist,
(Beifall der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
nämlich wenn es sich um einen autonomen, dauerhaften und ernsthaften Willen handelt. Das sind die festen Kriterien, an denen wir uns zu orientieren haben.
Ich habe große Demut und auch Ehrfurcht vor der Aufgabe, dass wir uns hier einer Normgebung auf dieser Basis, anhand dieser Kriterien neu widmen, und zwar insofern, als dass es natürlich immer um ganz existenzielle individuelle Situationen geht, bei denen dieses Recht, das wir dann neu zu schaffen hätten, zur Anwendung käme. Es geht um Entscheidungen, die wir nicht zu entscheiden haben; diese sind individuell zu entscheiden. Wir können nur den Rahmen setzen, um diesem Recht, das das Verfassungsgericht verbrieft hat, Geltung zu verleihen.
Wenn wir jetzt eine weitere Runde hier im Bundestag drehen, nachdem das Bundesverfassungsgericht eine Gesetzgebung für nichtig erklärte, ihr also den Boden entzog, bei der zuvor eine Kriminalisierung von Sterbehilfe stattgefunden hatte – sie war im Gesetz –, dann ist das eine Ausgangslage, vor der ich Respekt habe, weil ich eines vermeiden möchte: dass wir erneut in eine Situation kommen, einen Rahmen zu schaffen, der wieder Rechtsunsicherheit bringen könnte, wenn er für nichtig erklärt wird, der wieder Kriminalisierung schaffen könnte; denn das könnte eben in der Diskussion darüber, was denn eigentlich an legalisierter Sterbehilfe existiert und was nicht, bedeuten, dass sich die Menschen dem wieder nicht widmen möchten und alles in die Tabuzone schieben. Es darf dann eben nicht als Norm gelten, was aber doch Normalität ist. Es ist Normalität – wir können das nicht leugnen –, dass es Menschen gibt, die selbstbestimmt sterben wollen. Dem müssen wir uns solidarisch mit diesen Menschen stellen; diesen Umständen müssen wir uns stellen.
Insofern ist es konsequent, dass wir, wenn wir uns als Gesetzgeber dieser Frage widmen, uns ihr in dieser Einzelfallorientierung widmen. Das heißt also auch, dass ein Straftatbestand nicht in Betracht kommen kann; denn das Bundesverfassungsgericht hat den Regelfall definiert. Der Regelfall ist die Erlaubnis. Wenn wir einen Straftatbestand mit dem Ausnahmefall der Erlaubnis schaffen würden, würden wir die Aussage des Bundesverfassungsgerichts auf den Kopf stellen. Der Regelfall ist nach dem Bundesverfassungsgericht die Erlaubnis.
Insofern ist es wichtig – das ist auch in dem Antrag der Abgeordneten Keul, Künast, dem ich mich angeschlossen habe, verbrieft –, dass man im Beratungsrahmen herausfindet: Welche individuellen Fälle werden mit den Kriterien „autonom“, „ernsthaft“ und „dauerhaft“ angesprochen? Das müssen wir identifizieren. Ich hoffe, wir kommen zu einer guten Lösung.
In diesem Sinne – meine Redezeit ist abgelaufen –: Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Scheer. – Das Wort hat nunmehr der Kollege Hubert Hüppe, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7536434 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 36 |
Tagesordnungspunkt | Vereinbarte Debatte zum Thema Sterbehilfe |