Katrin BuddeSPD - Zukunftszentrum Europäische Transformation und Deutsche Einheit
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn Sie bei Facebook Werbung bekommen mit der Frage „Sind Sie 1965 geboren oder früher?“ und dann das Angebot für ein superkleines leistungsfähiges Hörgerät kommt oder wenn Sie beim Eintragen des Geburtsjahres im Formular so lange zurückscrollen müssen, dass Sie schon denken: „Kommt das noch?“, dann wissen Sie: Sie haben schon ein ganz schönes Stück Lebenszeit hinter sich gebracht.
(Beifall des Abg. Gereon Bollmann [AfD])
Bei mir ist das jedenfalls so, und ich sage für mich: Es war eine gute Lebenszeit bis hierher, eine Lebenszeit in zwei Staaten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ich war Teil einer friedlichen Revolution, ich habe die SPD, eine freie, demokratische Partei, in meiner Region mit gegründet und aufgebaut. Ich war Teil des Aufbaus meines Bundeslandes. Ich habe Strukturbrüche gesehen und Strukturwandel gestaltet, als Landespolitikerin, als Landesministerin, zum Teil erfolgreich; aber oft genug bin ich auch gegen Wände gerannt.
Ich habe als junge Diplom-Ingenieurin erlebt, wie mir schlechter qualifizierte Erwachsenenbildner aus dem Westen etwas beibringen wollten und wie Haupttechnologen großer ostdeutscher Betriebe den Kopf eingezogen haben, weil sie nicht wussten, was sie im neuen System sagen dürfen.
Ich habe miterlebt, wie meine Eltern mit Ende 50 aus dem Berufsleben ausscheiden und ihr Leben komplett neu sortieren mussten, und ich habe gelackte junge Typen von McKinsey und Arthur D. Little erlebt, die noch nie einen Betrieb von innen gesehen hatten, die uns aber erzählen wollten, wie man die Betriebe umstrukturiert.
(Beifall bei Abgeordneten der AfD und der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])
Und ich habe auch miterlebt, wie viel Gestaltungswillen, wie viel Mut und Kraft in einer Gesellschaft steckt, obwohl der Alltag ihrer Menschen von einem Tag auf den anderen komplett anders war.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)
Was aber mein persönliches Leben beschreibt, ist, dass ich immer Teil derer war, die gestaltet haben. Für viele Menschen in Ostdeutschland und Osteuropa war und ist das anders. Sie waren und sind Teil eines Prozesses, aber mit weit weniger aktiven Gestaltungs- und Entscheidungsmöglichkeiten.
Wir wissen heute, dass die Zeit nach 1990 nur sehr wenig mit Strukturwandel, dafür aber umso mehr mit Strukturbrüchen zu tun hatte. Das war in Ostdeutschland so; aber wir wurden durch das wiedervereinte Deutschland in einem gemeinsamen System nicht nur sozial aufgefangen, sondern für uns gab es eine besondere, bessere Situation. Und trotzdem behaupte ich, dass auch heute noch in den Tiefen der weiter westlich liegenden deutschen Bundesländer sehr vielen nicht klar ist, wie groß der Bruch 1990 war, dass er gesellschaftlich viel, viel tiefer ging, als vermutet wird, und daraus auch ein Teil der deutsch-deutschen Missverständnisse resultiert.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Das ist weder Jammern noch Anklagen. Wer mich kennt, weiß, dass ich weder das eine noch das andere tue. Der Weg aus der Diktatur heraus und hinein in die demokratische Gesellschaft war und ist für mich alternativlos. Aber wenn man selbst nicht Teil einer so tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformation ist, hat man ganz andere Alltagssorgen, und die prägen dann eben auch das Verständnis. Um aber zu verstehen und zu lernen, müssen Strukturwandel, Strukturbruch und Transformation mit ihren gesellschaftlichen Auswirkungen stärker noch in den Fokus rücken.
Eine Säule des Zukunftszentrums soll diese gigantische Aufgabe übernehmen. Diese Transformationsforschung muss in ständiger Auseinandersetzung mit der Gesellschaft stattfinden, an einem Ort, wo Veränderung auf Veränderung trifft und wo geballte Bevölkerungsmeinung auf Wissenschaft trifft.
Meine Damen und Herren, wie viel härter muss der Prozess in den osteuropäischen Nachbarländern gewesen sein? Und das war er auch. Die Entwicklung Ostdeutschlands muss deshalb auch immer im Kontext mit der Entwicklung in Osteuropa gesehen werden.
Ivan Krastev schreibt immer wieder sehr deutlich darüber, warum Regionen oder Nationen, die gezwungen werden oder die sich auch selber dazu entscheiden, andere gesellschaftliche Systeme anzunehmen, sie zu imitieren, nicht glücklich werden. Sein Zitat: Das Leben des Imitators wird zunehmend von Gefühlen der Unzulänglichkeit, Minderwertigkeit, Abhängigkeit und des Verlusts der eigenen Identität beherrscht.
Es lohnt sich übrigens, seine Aufsätze in Gänze zu lesen; denn auch wenn er eigentlich über die osteuropäischen Staaten schreibt, so beschreibt er ein Problem, das wir alle gemeinsam auch in Deutschland haben, in dem Prozess, den Willy Brandt mit den Worten beschrieben hat: Es wächst zusammen, was zusammengehört. – Aber es wächst noch.
Den Satz „Wir wollen kein Imitat des Westens sein“, den höre ich und hören viele von uns seit über zwei Jahrzehnten auch in Ostdeutschland, und das müssen wir ernst nehmen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
Deshalb brauchen wir den Dialog miteinander – gesellschaftlichen Dialog zwischen Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher Regionen, zwischen Generationen –, Debattenort und Begegnungszentrum. Das soll die zweite Säule des Zukunftszentrums sein.
Wir brauchen in unserer Zeit mit ihren großen globalen neuen Herausforderungen keine Fragmentierung der Gesellschaft, sondern wir brauchen Zusammenhalt, einander Verstehen – im besten Falle Verständnis füreinander – und die aktive Entscheidung dafür, die Herausforderungen gemeinsam anzugehen.
Und was wäre Dialog ohne Kultur? Deshalb steht über der dritten Säule des Zukunftszentrums das Wort „Kulturzentrum“. Wer eine Ahnung davon bekommen will, von welcher Idee wir uns dabei haben leiten lassen, sollte sich das Solidarnosc-Zentrum in Danzig ansehen. Ständige und temporäre Ausstellungen, kulturelle Bildung, künstlerische Auseinandersetzung mit Phänomenen der gesellschaftlichen Transformation, Würdigung gesellschaftlicher und individueller Lebensleistung, Austausch über die geschichtliche Entwicklung bis ins Heute und Ideenentwicklung für das Morgen, Wanderausstellungen in die Republik – das ist nur eine unvollständige und kursorische Beschreibung.
Trotz der unterschiedlichen Entwicklungen im neuen, größeren Europa haben wir über die Jahre ein gutes, ein neues Europa, ein stärkeres Europa aufgebaut, das sich in Krisen gegenseitig stützt. Und wir erleben seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, wie stark dieses neue Europa trotz der Unterschiedlichkeiten ist.
Wir stehen alle vor großen Herausforderungen. Die nächsten Transformationsprozesse stehen ins Haus. Energie ist dabei ein großes Thema. Die Auswirkungen auf die Automobilindustrie betreffen alle Regionen Europas mit ihren Arbeitsplätzen. Deshalb: Lassen Sie uns gute Ideen für ein gutes gemeinsames Morgen entwickeln!
Ein Dank noch zum Schluss an alle, die in der Kommission und an dem Zukunftszentrum mitgearbeitet haben. Als Teil beider Gruppen weiß ich, wie arbeitsaufwendig und intensiv der Prozess war.
Eine Entschuldigung an die CDU/CSU-Fraktion! Ich will es hier auch sagen: Sie sind als Koalitionspartner der letzten Legislatur gleichsam mit Geburtshelfer dieses Zentrums. Es ist mein Versäumnis; ich habe Sie einfach zu spät eingebunden, sonst hätte es auch ein gemeinsamer Antrag sein können. Ich würde mich aber freuen, wenn wir den Prozess weiter alle gemeinsam begleiten würden, wenn wir im Plenum und auch im Ausschuss beraten.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Thorsten Frei [CDU/CSU]: Ein guter Schluss!)
Schon wieder hatte ich ein großes Herz.
(Katrin Budde [SPD]: Ich habe darauf gesetzt, weil „Sachsen“ bei „Sachsen-Anhalt“ ja auch mit drinsteht, Herr Präsident, und für Sachsen haben Sie ja ein großes Herz!)
– Ich bin gebürtiger Niedersachse; insofern schließt sich der Reigen.
(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Nun ist der nächste Redner der Kollege Dr. Jonas Geissler, CDU/CSU-Fraktion.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7536450 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 36 |
Tagesordnungspunkt | Zukunftszentrum Europäische Transformation und Deutsche Einheit |