Alexander Graf LambsdorffFDP - Regierungserklärung zum Außerordentlichen Europäischen Rat am 30./31. Mai 2022
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem Ende der Sowjetunion ist das Ziel deutscher Außenpolitik ein freies, friedliches Russland in einem freien, friedlichen Europa. Aus historischen Gründen, aus menschlichen Gründen, aus kulturellen Gründen, aus wirtschaftlichen und aus politischen Gründen sind Angebote gemacht worden ohne Ende: Transformationspartnerschaften, strategische Partnerschaften, Modernisierungspartnerschaften, die vier „Gemeinsamen Räume“, der NATO-Russland-Rat; es ist wirklich viel angeboten worden.
Nur eines hat Russland nicht verstanden – jedenfalls das Russland von heute –: Europa, das ist nicht nur Geografie. Europa ist ein Raum von Frieden und Freiheit, von Recht und Sicherheit, und zwar für alle Nationen auf unserem Kontinent, meine Damen und Herren,
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
nicht nur für Deutschland und Frankreich, sondern eben auch für Nationen wie Georgien und besonders die Ukraine. Deshalb ist dieser Angriffskrieg auf die Ukraine ein direkter Angriff auf Europa, auf unsere Friedensordnung, auf das Völkerrecht und damit sogar auf die Weltordnung und die Charta der Vereinten Nationen.
Manche sagen: Alle wären davon überrascht gewesen. – Ich glaube, das ist nicht ganz richtig. Wenn man Präsident Putin gelesen hat, wenn man ihm zugehört hat, dann konnte man heraushören, dass sich da etwas anbahnt, etwas zusammenbraut. Er hat diesen Satz gesagt, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei. Oft wird das in Deutschland unter Weglassung des Wortes „geopolitisch“ zitiert. Aber das ist wichtig, weil Putin gerade gesagt hat: „geopolitisch“. Er hat nicht gesagt: die größte ideologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Es geht ihm nicht um die Wiedererrichtung der Sowjetunion. Deswegen missbraucht er jetzt die Geschichte als Ideologieersatz, um die Größe des Russischen Reiches durch Unterwerfung anderer Nationen wiederherzustellen. Meine Damen und Herren, das will Putin erreichen.
Aber was hat Putin wirklich erreicht? Militärisch erst mal erheblich weniger, als er sich erhofft hat. Die Schlacht um Kiew ist dramatisch verloren gegangen für die russische Seite. Er hat versucht, den Westen zu spalten. Stattdessen hat er die Einigkeit des Westens gefördert. Alle seine Versuche, die NATO zu spalten – wie wir das aus den Vertragsentwürfen, die Russland im Dezember vorgelegt hat, herauslesen konnten –, sind gescheitert. USA, Kanada, Europa, unsere demokratischen Verbündeten im Rest der Welt – wir sind zusammengerückt.
Er hat nicht nur erreicht, den Zusammenhalt des Westens zu stärken, er hat zudem konkret die Stärkung der NATO erreicht. Dass Schweden nach 200 Jahren seine Neutralität aufgibt und einem Militärbündnis beitritt, ist eine historische Zäsur im Ostseeraum. Und dass Finnland das gleich mitmacht, ist für mich – der sehr viel mit schwedischen und finnischen Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeiten durfte – eine der größten Überraschungen, eine der dramatischsten Entwicklungen überhaupt. Ich freue mich auf den Beitritt der Schweden und der Finnen in die NATO. Meine Damen und Herren, ich bin sicher, das geht uns allen so.
(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Wir haben auch innerhalb der NATO etwas getan. Deutschland hat die Ostflanke mit verstärkt: in der Slowakei, in Rumänien und ganz besonders auch in Litauen. Wir üben Solidarität mit der Ukraine. Es gibt große Unterstützung. Es werden Sanktionen gegen Russland verhängt, es werden Waffen geliefert.
Ich verstehe manche – der Bundeskanzler hat es gesagt –, die sich Sorgen machen, was das für Auswirkungen auf unsere Wirtschaft, auf unseren Wohlstand und auf unser Wachstum haben könnte. Aber ich muss eines deutlich sagen: Die Ukraine nicht zu unterstützen, das wäre erheblich teurer, als jetzt Solidarität mit der Ukraine zu üben. Denn ein Erfolg Russlands bei seinem Unterwerfungsversuch würde Putin nur ermutigen, weiterzumachen auf seinem Weg des Krieges. Deswegen ist die Unterstützung für die Ukraine auch der günstigere, der bessere, der klügere und der moralisch richtige Weg.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Putin hat zudem erreicht, dass Deutschland eine nationale Sicherheitsstrategie entwickelt, in der die Außenministerin die Wehrfähigkeit in den Mittelpunkt gerückt hat, um unsere Freiheit zu schützen. Wir bekennen uns endlich klar zum 2‑Prozent-Ziel der NATO, und wir werden die Bundeswehr durch ein Sondervermögen stärken. Ich freue mich, dass auch die Union im Prinzip dafür ist.
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Richtig!)
Die Soldatinnen und Soldaten warten darauf. Es wäre schön, wenn CDU und CSU hier von der Bremse gehen
(Friedrich Merz [CDU/CSU]: Es liegt nicht an uns!)
und der Bundeswehr die Stärkung zukommen lassen würden, auf die unsere Männer und Frauen in den Streitkräften so dringend warten.
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Meine Damen und Herren, mein letzter Punkt: Auch die Europäische Union – wir haben die Vorschläge von Präsident Macron gehört; wir haben gehört, was auf der Zukunftskonferenz gesagt wurde – wird sich reformieren müssen, wird sich stärken müssen, um unsere Freiheit, unsere Werte, unsere Demokratie zu verteidigen, auch damit wir genau diese Werte an kommende Generationen weitergeben können.
Ich danke Ihnen herzlich.
(Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Wir sind nicht das Problem!)
Nächste Rednerin: für die SPD-Fraktion Dr. Nina Scheer.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
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Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 37 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Außerordentlichen Europäischen Rat am 30./31. Mai 2022 |