Nina ScheerSPD - Regierungserklärung zum Außerordentlichen Europäischen Rat am 30./31. Mai 2022
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine der dringlichsten Aufgaben dieser Zeit und damit auch für die anstehende Zusammenkunft des Europäischen Rats, die außerordentlich angesetzt ist, ist die Energiesicherheit. Auf dieses Thema möchte ich mich nun konzentrieren.
Es ist falsch, wenn vom rechten Rand behauptet wird, dass mit Energiewendefragen die Kassen und die Geldbeutel der Menschen geplündert würden. Es ist infam und dumm, so etwas zu unterstellen,
(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das ist einfach nur richtig!)
weil Fakt ist, dass wir allein im März durch Energiepreissteigerungen im fossilen Sektor 4,4 Milliarden Euro mehr ausgegeben haben und insgesamt in der Europäischen Union seit Kriegsbeginn 50 Milliarden Euro an Russland für fossile Energieimporte überwiesen haben – 50 Milliarden Euro! Das sind die Zahlen, mit denen wir uns auseinanderzusetzen haben. Da gibt es nur eine einzige Antwort: dass wir so schnell wie möglich die Abhängigkeit von fossilen Ressourcen, insbesondere natürlich die Importabhängigkeiten von Russland, reduzieren bzw. auf null bringen müssen.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Harald Weyel [AfD])
Wir haben gestern weitere Vorschläge von der Europäischen Kommission vorgelegt bekommen, die nun auch Gegenstand der Beratungen sein werden. Sie fokussieren richtigerweise auf ein massives Aufwuchsprogramm für den Umstieg auf erneuerbare Energien. Es ist mit 195 Milliarden Euro unterlegt; 95 Prozent davon sollen auf die Erneuerbaren und auf Einsparungsmaßnahmen zielen. Das ist genau der Weg, den wir gehen müssen. Deswegen ist es auch wichtig, dass diese Vorschläge pünktlich zur Sitzung des Europäischen Rats vorgelegt werden.
In Deutschland waren wir nicht untätig: Wir haben in den letzten Wochen schon enorme Schritte geschafft bei der Reduzierung der Importabhängigkeiten im fossilen Sektor. Wir waren im Gasbereich Anfang des Jahres noch bei einer Abhängigkeit von ungefähr 55 Prozent; jetzt sind wir bei 35 Prozent. Wir waren im Bereich Steinkohle Anfang des Jahres bei 50 Prozent; jetzt sind wir bei 8 Prozent. Wir waren im Bereich Öl bei 35 Prozent; nun sind wir bei 12 Prozent. Das sind enorme Leistungen – für Deutschland und noch nicht für die gesamte Europäische Union gesprochen. Es zeigt: Wenn ein Industrieland wie Deutschland das schafft, dann sind wir auf einem guten Weg. Wir müssen dies gemeinsam in der Europäischen Union fortsetzen.
Ich möchte auf die Frage eingehen, woher die Preiskrise vor dem Krieg kam. Wir hatten eine fossile Energiepreiskrise, die bereits vorher eingesetzt hat. Die Auseinandersetzungen, die wir auch hier im Deutschen Bundestag schon vor dem Krieg geführt haben, etwa zu den Entlastungspaketen, waren Kennzeichen dieser fossilen Energiepreiskrise. Das müssen wir ganz klar fokussieren; denn das bedeutet, dass unsere Anstrengungen über die Abmilderung der Folgen dieses dramatischen Konflikts hinausgehen müssen.
Ich möchte betonen, dass das eine soziale Frage ist. Die Abhängigkeit von fossilen Energien zu beenden, ist eine soziale Frage, weil es ohne die entsprechende Unabhängigkeit zu Energiearmut kommt. Wir schaffen auch für ärmere Länder auf der Welt keine Teilhabe, keine Entwicklungsperspektive, wenn wir nicht eine Unabhängigkeit von endlichen fossilen Ressourcen erreichen. Das muss im Zentrum stehen. Genauso wichtig ist die Begrenzung des Klimawandels. Aber es muss uns deutlich werden, dass wir auch ohne den Klimawandel genau das Gleiche tun müssten: Wir müssten so schnell wie möglich die Importabhängigkeit und die generelle Abhängigkeit von fossilen Ressourcen beenden.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP und der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Insofern ist richtig, was die Europäische Union nun vorgelegt hat: ein massives Aufwuchsprogramm für Solarenergie. Der Solarenergieausbau soll verdoppelt werden. Wir müssen einen Grenzausgleichsmechanismus schaffen – das ist schon längere Zeit in der Diskussion –, damit es sich lohnt, auf CO2-ärmere Technologien zu setzen und Energieeinsparungen vorzunehmen. Damit betroffene Unternehmen im Wettbewerb nicht weggedrückt werden, muss es dafür einen Ausgleichsmechanismus geben; anders ist das im weltweiten Wettbewerb nicht zu wuppen. Dieses CBAM-System muss kommen.
In den nächsten Wochen muss auch noch auf etwas anderes hingewirkt werden: Wir haben ein massives Ungleichgewicht bei den Begünstigungen bzw. Ausnahmevorschriften von Beihilfeleitlinien. Im Kontext der Coronapandemie ist es uns gelungen – und dieser Ansatz war richtig –, auch Ausnahmen von Beihilfevorschriften in der Europäischen Union festzuschreiben, um die Wirtschaftsfähigkeit und die Hilfsfähigkeit gewährleisten zu können. Das muss jetzt auch bei den erneuerbaren Energien gelten. Wir dürfen uns hier nicht selbst im Wege stehen. Die Europäische Kommission hat gestern richtigerweise gesagt: Nur sechs Monate darf der Genehmigungsprozess dauern, nicht mehrere Jahre. – Auch Olaf Scholz hat immer und immer wieder betont: Der beschleunigte Ausbau erneuerbarer Energien muss im Zentrum stehen.
(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, dann macht!)
Dafür dürfen wir diese Genehmigungshemmnisse nicht länger vor der Brust haben.
(Beifall bei der SPD)
Energiesicherheit ist insofern eine Frage der europäischen Wertschöpfung in den Bereichen Solarzellen, Windkraftanlagen, aber auch in den Bereichen Speicher und natürlich Wasserstofftechnologien. Wir müssen dabei die Monopolabhängigkeiten überwinden.
Herr Merz, noch mal an Ihre Adresse: Wenn Sie meinen, dass in der Handelspolitik der letzten zehn Jahre alles richtig gelaufen sei, dann muss ich Ihnen widersprechen.
(Beifall der Abg. Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die Abwanderung der deutschen Solarindustrie ist ein Effekt neoliberaler Politik. Wir haben nicht dafür Sorge getragen, dass sich die sozial-ökologische Wende, die wir brauchen, auch in der Handelspolitik niedergeschlagen hat.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Und Kanada ist neoliberal, oder wie? Was hat das mit CETA zu tun?)
Wenn Sie das immer noch nicht erkannt haben, dann wird es aus Ihren Reihen heraus sicher keine guten und konstruktiven Vorschläge geben, um diesen Wandel hinzubekommen. Wir müssen die Wertschöpfung in der Europäischen Union halten. Das macht uns unabhängig, das bringt Energiesicherheit.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Friedrich Merz [CDU/CSU]: Und warum ist die abgewandert, diese Industrie? Das hat doch mit neoliberal nichts zu tun!)
Nächster Redner: für die CDU/CSU-Fraktion Gunther Krichbaum.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7536512 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 37 |
Tagesordnungspunkt | Regierungserklärung zum Außerordentlichen Europäischen Rat am 30./31. Mai 2022 |