01.06.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 40 / Tagesordnungspunkt EPL 04, 22

Thorsten FreiCDU/CSU - Bundeskanzler und Bundeskanzleramt, Unabhängiger Kontrollrat

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich finde es schon eine bemerkenswerte Strategie, dass die Vertreter der Koalitionsfraktionen, denen ich zugehört habe, den überwiegenden Teil ihrer Redezeit darauf verwenden, die Opposition zu beschimpfen. Das ist sicherlich keine zukunftsträchtige Strategie, wenn es darum geht, die Herausforderungen der Zukunft zu lösen und zu bewältigen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

In der Tat, es sind wichtige Zeiten, in denen wir leben. Es gibt Ereignisse, die teilen die Zeit in ein Davor und in ein Danach. Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist ein solches Ereignis. Deswegen hat der Herr Bundeskanzler heute ja auch sehr viel über die Zeitenwende der großen Staaten gesprochen. Es gibt aber zeitgleich auch eine Zeitenwende der kleinen Leute, und die beginnt nicht mit einer Kriegserklärung, sondern die kommt schleichend und lautlos daher. Sie ist unerbittlich und enttäuschend für viele Menschen und auch existenzbedrohend.

(Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt der Anwalt der kleinen Leute!)

Diese Zeitenwende macht vor allen Dingen Rentner, Arbeiter und Sparer zu den großen Verlierern dieser Zeit, und diese Zeitenwende wird „Inflation“ genannt.

(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Dürr [FDP]: Was ist jetzt Ihr Vorschlag? Was kommt denn heute Morgen noch?)

Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, antworten darauf nur mit dem Kurieren von Symptomen und bekämpfen nicht die Ursachen der Inflation, der Geldentwertung. Sie, Herr Bundeskanzler, haben heute Morgen gelobt, wie hoch die Rentensteigerung ausfallen wird. Ja, wir hatten im letzten Jahr eine Geldentwertung von 3,1 Prozent und haben in diesem Jahr eine von 7,9 Prozent. Das sind über 2 Prozentpunkte mehr als die Rentensteigerung, die wir dieses Jahr bekommen werden; das heißt nicht mehr, sondern weniger in den Geldbeuteln der Menschen. Das ist die Wahrheit. Darauf sollten Sie eine Antwort finden.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Das stimmt! – Zuruf der Abg. Katharina Beck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

– Die gebe ich Ihnen gerne. – In dieser Situation sind vor allen Dingen diejenigen betroffen, die den Ratschlag vieler Politiker in den vergangenen Jahren beherzigt und für das Alter vorgesorgt haben. Aber in dieser Situation schmilzt die Altersvorsoge der Menschen hier in Deutschland wie Eis in der Sonne. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katharina Beck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, Ihrer Politik! )

Ich will an dieser Stelle, meine sehr verehrten Damen und Herren – auch von den Grünen –, einmal den ehemaligen Bundesfinanzminister zitieren. Er hat im Juni letzten Jahres, also vor ziemlich genau einem Jahr, folgenden Satz gesagt: Ich will allen die Sorge nehmen, dass wir mit der Inflation ein allzu großes Problem bekommen. Die Inflation wird viel geringer ausfallen, als viele befürchten. – Das hat der damalige Bundesfinanzminister vor einem Jahr gesagt.

Ich will Ihnen nicht vorwerfen, dass Sie anders als andere die heraufkommenden Probleme nicht erkannt haben, dass Sie sie weggeschwiegen haben. Aber Ihnen ist vorzuwerfen, dass Sie es bis heute nicht als zentrale Herausforderung Ihrer Kanzlerschaft begriffen haben, etwas dagegen zu tun, dass das Geld der Menschen mehr und mehr entwertet wird. Das ist die Herausforderung. Wenn Sie es täten, dann würden Sie eine andere Fiskalpolitik machen

(Lachen bei Abgeordneten der AfD)

und dann würden Sie insbesondere auf europäischer Ebene nach anderen Regeln rufen. Sie tun das allerdings nicht, und deswegen sage ich Ihnen eines: Der Kampf gegen die Geldentwertung, das ist soziale Verantwortung. Der Kampf gegen die Geldentwertung, das ist Leistungsgerechtigkeit. Deswegen fordern wir Sie auf, dieses Thema endlich anzugehen,

(Beifall bei der CDU/CSU)

und zwar nicht, indem man an den Symptomen herumdoktert, sondern indem man die Ursachen bekämpft.

Ich will vor diesem Hintergrund ein letztes Zitat heute ansprechen.

(Dr. Wiebke Esdar [SPD]: Keine Lösung!)

Es stammt vom früheren Oppositionspolitiker und heutigen Finanzminister Christian Lindner. Er hat den damaligen Bundesfinanzminister Scholz, den er mit einem Karnevalsprinzen vergleicht, attackiert und über die Inflation, die er früher als andere erkannt hat, Folgendes gesagt – Zitat –:

… der Staat ist einer der größten, wenn nicht der größte Treiber von Inflation. … Als Finanzminister warf Olaf Scholz mit Kamelle um sich.

Und weiter:

Die öffentlichen Finanzen solide zu halten, ist dafür der wesentliche Baustein. Wenn die EZB in das Schlepptau der Fiskalpolitik stark verschuldeter Staaten geraten würde, dann hätte sie kaum Möglichkeiten, die Inflation zu bekämpfen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Statt neuer Schulden müsste Deutschland, so Lindner, den – Zitat – „Tilgungsturbo“ anwerfen.

Also, unsolide Staatsfinanzen, schmettert Lindner Scholz entgegen, gefährden die Preisstabilität. Ich finde, besser kann man es nicht zusammenfassen. Umso mehr fragt man sich, ob das wirklich der Mann ist, der sechs Monate später einen verfassungswidrigen Nachtragshaushalt mit 60 Milliarden Euro neuen Schulden vorlegt, der ganz sicher vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern wird, ob das der gleiche Mann ist, der zwölf Monate später mit 240 Milliarden Euro Nettoneuverschuldung die höchste Neuverschuldung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zu verantworten hat.

(Christian Dürr [FDP]: Das ist Quatsch!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will Ihnen sagen: Es gibt etwas, das noch schneller schmilzt als das Vermögen der Deutschen, und das ist die Glaubwürdigkeit der FDP. Sie schmilzt wie Eis in der Sonne.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der AfD – Christian Dürr [FDP]: Das ist in der Sache falsch!)

Wir haben einen Bundeskanzler, der das Problem negiert und auch jetzt so tut, als gäbe es das nicht. Und wir haben einen Bundesfinanzminister, der das Problem erkennt, aber gegensätzlich handelt. Damit wird eines deutlich – es ist das Muster Ihrer Koalition –: Diese Koalition wird durch Schulden, Schulden und noch mehr Schulden zusammengehalten.

(Christian Dürr [FDP]: So ein Quatsch!)

Sie sind der Kitt dieser Koalition. Damit wird alles zugeschüttet. Aber was der Zement für diese Koalition ist, ist Sprengstoff für die Glaubwürdigkeit der FDP. Das sollten Sie sich sehr gut überlegen.

(Beifall bei der CDU/CSU – Jan Korte [DIE LINKE]: Ihr habt ein neurotisches Verhältnis zur FDP! Ihr müsst zur Paartherapie!)

Man muss eines sagen: Bei der einen oder anderen Rede hat man den Eindruck gewinnen können, dass Geldentwertung Schicksal sei, eine Naturgewalt. Nein, das ist es nicht. Die Geldentwertung ist das Ergebnis politischer, ökonomischer, fiskalischer und geldpolitischer Entscheidungen,

(Christian Dürr [FDP]: Ja, genau! 16 Jahre!)

und jede einzelne dieser Entscheidungen kann man auch anders treffen.

(Christian Dürr [FDP]: Ach!)

Ich will Ihnen das an drei Beispielen benennen. Natürlich stimmt es, dass wir den Lockdown in China haben, dass wir den Krieg in der Ukraine haben – da haben Sie vollkommen recht –, dass wir eine Delokalisierung von Produktionsstätten haben, dass es eine Fiskalpolitik der Staaten und die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank gibt. Aber an drei Beispielen möchte ich Ihnen zeigen, dass man es auch anders machen kann.

Erstens: zur Verlagerung von Produktionsstätten. Ja, es ist richtig, sich aus Russland zurückzuziehen, und es ist auch richtig, in den Blick zu nehmen, dass wir strategische Abhängigkeiten von China reduzieren oder gar beenden. Aber wenn man das tut, dann muss eine internationalisierte Volkswirtschaft, wie wir sie haben, nach neuen Räumen Ausschau halten. Das bedeutet noch mehr internationale Zusammenarbeit mit den Staaten, die unsere Werte von Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit teilen. Dann geht es um Staaten wie die USA und um Kanada. CETA ist seit vier Jahren ausverhandelt und vom Bundesverfassungsgericht ausgeurteilt. Seit Wochen bemühen wir uns in jeder einzelnen Sitzungswoche, das Ratifizierungsgesetz hier im Bundestag zur Abstimmung zu bringen. Wer verhindert es? Die Koalition verhindert es. Das macht Sie unglaubwürdig, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Kollege Frei, ich habe die Uhr angehalten. Gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung aus der Grünenfraktion?

Bitte schön.

Lieber Herr Frei, wir haben uns ja letzte Woche schon 40 Minuten zum Thema Inflation ausgetauscht. Ich finde es schön, dass Sie jetzt nicht nur die Symptome bekämpfen, sondern auch die Ursachen angehen wollen.

Ganz unumstritten liegen die Ursachen zum einen in unserer massiven, klumpenrisikohaften Abhängigkeit von russischem Gas, die Sie uns hinterlassen haben.

(Beifall der Abg. Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

55 Prozent Abhängigkeit, das muss man erst mal schaffen. Wir sind jetzt dabei, das zu ändern.

Zum anderen liegt es an den Energiemärkten, die auch vom BMF und Kartellamt als oligopolistisch bezeichnet werden. Angebot und Nachfrage regeln hier eben nicht den Preis. Wir haben vor fünf Minuten schon danach gefragt, dass Sie uns da mal Lösungen präsentieren. Sie haben gesagt, Sie wollten das machen. Bitte nennen Sie uns doch mal Ihre Lösungen für den Energiemarkt und das Problem der hohen Preise, die übrigens auch Ursache für die hohen Lebensmittelpreise in Deutschland sind, und zwar massiv, also für das, was Sie 16 Jahre lang kaputtgemacht haben.

Vielen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der FDP)

Sehr geehrte Frau Beck, einen Punkt habe ich gerade erwähnt, beispielsweise was internationale Handelsverträge angeht.

(Dr. Wiebke Esdar [SPD]: Das ist keine Ursache!)

Einen zweiten Punkt als wesentliche Ursache für die Geldentwertung will ich gerne ansprechen. Das ist der Angebotsschock, den wir in Europa haben. Darauf hat die Europäische Kommission übrigens reagiert, indem sie es ermöglicht, dass wir auch auf ökologischen Brachflächen, auf Vorrangflächen Feldfrüchte anbauen. So könnte man allein in Deutschland 800 000 Tonnen Getreide anbauen, mit denen man 3 Millionen Menschen ernähren könnte.

(Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir hatten nach den Energiemärkten gefragt!)

Alle Länder in Europa praktizieren das; einer ist dagegen. Herr Bundeskanzler, das ist Ihr Bundeslandwirtschaftsminister.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Das ist nicht nur ein Beitrag, um die Probleme noch weiter zu verschärfen.

(Andreas Audretsch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das Ihre Antwort? Im Ernst?)

Das ist auch ein Beitrag dazu, nichts zu leisten, wenn es darum geht, eine weltweite Hungersnot zu bekämpfen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Ich will einen dritten Punkt benennen. Frau Beck, Sie haben ganz konkret das Thema Energie angesprochen. Wenn ich Ihre Pläne hier im Deutschen Bundestag anschaue, dann ist zum Beispiel auch das Osterpaket dabei. Ich bin ein Abgeordneter aus dem Schwarzwald. Da gibt es seit Jahrhunderten Wasserkraft. Wasserkraft versorgt etwa 1 Million Haushalte in Deutschland mit regenerativer Energie, die aber anders als Wind und Sonne dann zur Verfügung steht, wenn man sie wirklich braucht. Im Osterpaket sind Regelungen enthalten, die Wasserkraftwerke für 90 Prozent der Betreiber verunmöglichen. Das machen Sie in einer Zeit, wo es darum geht, autark zu werden, wo es darum geht, unabhängig zu werden. Da nehmen Sie diese Möglichkeiten vom Tisch, genauso wie Sie die letzten drei verbliebenen Atomkraftwerke ausgerechnet dann abschalten wollen, wenn wir im nächsten Winter wahrscheinlich den Pik der Herausforderungen erreichen werden.

(Christian Dürr [FDP]: Das hat, glaube ich, Ihre Regierung gemacht!)

Das ist sicherlich keine kluge und verantwortungsvolle Politik.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Natürlich ist für die Inflation auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank, die zu Recht unabhängig ist, entscheidend. Aber der Handlungsspielraum der Europäischen Zentralbank, die selbst in Zeiten dieser Inflation noch auf negative Einlagezinsen setzt und Anleihekäufe tätigt, ergibt sich natürlich auch aus der Fiskalpolitik der Staaten. Da würde ich mir wirklich wünschen, dass Sie einer sicherheitspolitischen Zeitenwende eine haushalts- und finanzpolitische Zeitenwende folgen lassen, dass Sie Schwerpunkte setzen und dass Sie nicht jedes Problem mit neuen Schulden lösen, womit wir dann natürlich auch negatives Vorbild für ganz Europa sind.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir bräuchten hier einen starken Bundesfinanzminister, der als Liberaler eigentlich die linken Blütenträume aus dem Koalitionsvertrag herausstreichen müsste. Und wir bräuchten einen Bundeskanzler, der in diesem Zusammenhang nicht von einem Hamilton-Moment träumt. Herr Bundeskanzler, Sie haben nicht die ganze Geschichte erzählt, als es um die Verschuldung in Europa ging. Als Alexander Hamilton 1790 die Vergemeinschaftung der Schulden in den USA ermöglicht hat, hat er im Grunde genommen nicht den Zement für den neuen Staat angerührt, sondern Sprengstoff gelegt. Er hat viele Staaten in die Insolvenz getrieben. Die Auswirkungen reichten bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg. Das wollen wir nicht. Schulden sind keine Zukunftspolitik, in Deutschland nicht und in Europa nicht. Sie sollten eine Politik machen, die dazu führt, dass wir auch die Regeln einhalten, die wir uns in Europa gegeben haben und die es ermöglichen, dass wir kraftvoll gegen Inflation, gegen Geldentwertung vorgehen können.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Achim Post das Wort.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

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Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7536986
Wahlperiode 20
Sitzung 40
Tagesordnungspunkt Bundeskanzler und Bundeskanzleramt, Unabhängiger Kontrollrat
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