22.06.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 43 / Tagesordnungspunkt 3

Friedrich MerzCDU/CSU - Regierungserklärung EU Rat, G7-Gipfel, NATO-Gipfel

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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir erleben zurzeit in der Tat die tiefste Zäsur der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ergebnisse der jetzt in sehr dichter Abfolge stattfindenden Gipfeltreffen der Europäischen Union, der G 7 und der NATO werden auf lange Zeit die politische Ordnung auf unserem Kontinent und damit das Leben der Menschen in ganz Europa und darüber hinaus bestimmen.

Herr Bundeskanzler, wir haben aus Überzeugung mitgestimmt bei der Neuausrichtung der deutschen Sicherheitspolitik und bei der neuen Art der Finanzierung der Bundeswehr. Das ist ein wesentlicher Bestandteil einer neuen deutschen und damit auch einer neuen europäischen Sicherheitspolitik.

Wir begrüßen ausdrücklich, dass Sie in der letzten Woche – will sagen: nun endlich – in Kiew gewesen sind und dass Sie dort mit dem französischen Staatspräsidenten, dem rumänischen Präsidenten – das war besonders wichtig – und dem italienischen Ministerpräsidenten zu Besuch waren. Das war ein wichtiges Zeichen der europäischen Solidarität mit diesem unverändert geschundenen Land und seinen Menschen. Dieser Besuch aber, meine Damen und Herren, ändert nichts daran: Der russische Vernichtungskrieg in der Ukraine trägt von Tag zu Tag mehr – so sagt es das Wallenberg Centre for Human Rights – „die zentralen Merkmale eines intendierten Völkermords“.

Wir alle – Sie, die Mitglieder der Bundesregierung, wir, die Mitglieder des Deutschen Bundestages – haben in diesen Tagen den Brief einer großen Zahl von anerkannten Historikern, Völkerrechtlern und weiteren Personen des öffentlichen Lebens erhalten, die uns alle zusammen eindringlich auffordern, auch unserer Schutzverantwortung für die Ukraine nachzukommen und die immer größer werdende Gefahr eines Völkermordes abzuwenden. Wir stehen zu dieser Verantwortung auch als CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Herr Bundeskanzler, wir begrüßen ausdrücklich, dass nun auch endlich die Lieferung der Waffen in Gang kommt, die wir hier gemeinsam am 28. April im Deutschen Bundestag mit sehr großer Mehrheit beschlossen haben und die Sie schon seit Wochen ankündigen. Es hat offenbar in Ihrer Regierung einen Meinungswechsel gegeben im Hinblick auf die Veröffentlichung von Listen und auch auf die Lieferung. Wir begrüßen das ausdrücklich. Wir hätten es uns früher vorstellen können.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es ist vor allem angesichts der Tatsache wichtig, dass Russland nun offenbar dabei ist, auch die Spannungen zu einem weiteren Nachbarland zu verschärfen, nämlich gegenüber Litauen.

(Zuruf von der AfD: Wer verschärft denn? Das macht doch Litauen!)

Herr Bundeskanzler, Sie haben das hier mit einem Halbsatz angesprochen; ich will es etwas deutlicher sagen: Dies zeigt, dass wir in unserer Einschätzung richtig liegen, dass Putin in der Ukraine gestoppt werden muss. Wenn das nicht gelingt, macht er weiter.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Nun will ich allerdings unserer Überraschung schon ein wenig Ausdruck verleihen, dass ausgerechnet in einer solchen Lage der außenpolitische Berater des Bundeskanzlers, Ihr wichtigster Mitarbeiter in der Außenpolitik im Bundeskanzleramt, es für richtig und angezeigt hält, öffentlich darüber zu räsonieren, wie denn nun unser Verhältnis zu Russland sein könnte. Wörtlich:

Mit 20 Mardern kann man viele Zeitungsseiten füllen, aber Artikel darüber, wie wird unser Verhältnis zu Russland sein, gibt’s jetzt irgendwie weniger.

Herr Bundeskanzler, solche Äußerungen sind genau die Äußerungen aus Ihrer Bundesregierung, die im Inland und noch mehr im europäischen Ausland und außerhalb der Europäischen Union berechtigte Zweifel daran auslösen, ob Sie es wirklich ernst meinen mit dem, was Sie auch heute hier von dieser Stelle aus wieder gesagt haben.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Sie verlieren mit diesen Zweifeln aus Ihren eigenen Reihen das wichtigste Kapital, das Sie gerade jetzt in dieser internationalen Krise brauchen, nämlich Vertrauen und Verlässlichkeit in den deutschen Bundeskanzler.

(Zuruf von der SPD: Hattest du noch nie!)

– Sie haben auch schon mal witzigere Zwischenrufe gemacht.

(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wir sind unschuldig, Herr Merz! Da haben Sie wohl in die falsche Richtung geguckt!)

Ich vermisse übrigens in Ihren Reihen den Parteivorsitzenden der SPD. Wo ist der eigentlich?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Der macht hier kluge Vorschläge zur Außen- und Sicherheitspolitik, und dann sieht man mal in Ihre Reihen und stellt fest: Die Hälfte der SPD-Bundestagsfraktion fehlt. Was ist eigentlich los, Herr Bundeskanzler, in Ihrer eigenen Koalition, dass noch nicht einmal Ihre beiden Parteivorsitzenden heute da sind und Ihren Ausführungen zugehört haben?

(Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)

Wir sind da und hören zu.

Also, immerhin der Beschluss der Staats- und Regierungschefs, meine Damen und Herren, über den Kandidatenstatus der Ukraine ist wichtig. Er ist ein wichtiges politisches Signal des europäischen Zusammenhalts. Aber wir alle wissen: Der Beschluss allein, die Ukraine jetzt in den Kandidatenstatus zu setzen, hilft diesem Land noch nicht, und die Ukraine ist damit von einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union – wir wissen es – noch viele Jahre entfernt. – Deswegen stellt sich die berechtigte Frage: Was geschieht in der EU mit der Ukraine eigentlich in der Zeit bis dahin?

Sie haben sich, Herr Bundeskanzler, bei anderer Gelegenheit offen gezeigt – so haben Sie es gesagt – für den Vorschlag des französischen Präsidenten einer europäischen politischen Gemeinschaft. Nun sind diese Vorschläge, zwischen der Vollmitgliedschaft und der Nichtmitgliedschaft eine Art Zwischenstatus in der Europäischen Union zu schaffen und auch institutionell abzusichern, nicht neu. Aus unseren Reihen hier, aus dem Deutschen Bundestag, aus der Bundestagsfraktion der CDU/CSU sind schon 1994 Vorschläge gemacht worden für eine abgestufte Integration innerhalb der Europäischen Union. Aber was folgt denn nun daraus, wenn der französische Staatspräsident eine solche Frage stellt? Was ist die Antwort der Bundesregierung, der Bundesrepublik Deutschland? Ich finde, Europa könnte – und ich meine sogar: Europa muss – bis zur Vollmitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union einen Weg finden, um die Beitrittskandidaten – eben nicht nur die Ukraine, sondern auch Moldau, möglicherweise auch Georgien – Schritt für Schritt an diese Europäische Union heranzuführen.

Der französische Präsident, meine Damen und Herren, hat weitere Vorschläge gemacht für die Reform der Europäischen Union. Er hat unter anderem eine Reform des Maastricht-Vertrages vorgeschlagen.

(Ulrich Lechte [FDP]: Hat er vor fünf Jahren!)

Und es ist aufschlussreich, dass Sie in Ihrer Regierungserklärung heute kein Wort darüber verloren haben, dass auch die Präsidentin der Europäischen Zentralbank an diesem Gipfel der Europäischen Union teilnimmt und dort einen Ausblick auf die finanz- und wirtschaftspolitische Lage geben wird. Meine Damen und Herren, ich will von unserer Seite hier jedenfalls festhalten: Für uns gibt es keinen Zweifel daran, dass wir am Maastricht-Vertrag und am Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Union ohne Wenn und Aber festhalten wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Es gibt Gründe, diesen Hinweis zu geben. Denn, meine Damen und Herren, wenn ich Überlegungen aus der Europäischen Zentralbank höre, dass man jetzt der „Fragmentierung der Eurozone“ begegnen will, dann sind dies erste Hinweise darauf, dass offensichtlich die Europäische Zentralbank vorhat, außerhalb ihres Mandats weitere Stützungsmaßnahmen für einzelne Länder innerhalb der Währungsunion vorzubereiten. Auch hier gilt: Die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, ist im Rahmen des Mandats der Europäischen Zentralbank gebunden an die Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichtes vom 5. Mai 2020.

(Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das hat auch nicht gestört!)

Ich will das hier noch einmal in Erinnerung rufen.

Vor allem sind Sie gebunden an die strikte Regel, dass Anleihen von der Europäischen Zentralbank nur quotal nach den jeweiligen Kapitalschlüsseln der nationalen Zentralbanken gekauft werden. Das hört sich jetzt sehr technisch an. In Wahrheit, meine Damen und Herren, ist dies eine ganz wesentliche politische Frage der zukünftigen Stabilität der Europäischen Währungsunion, wenn die Europäische Zentralbank ihren Auftrag weiter erfüllen will, für Geldwertstabilität zu sorgen, und zwar nur für Geldwertstabilität. Ein anderes Mandat hat die Europäische Zentralbank nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der AfD und des Abg. Matthias Helferich [fraktionslos] – Zuruf von der AfD: Fragen Sie mal Frau Merkel!)

Und es ist schon aufschlussreich, dass Sie in dieser Regierungserklärung den Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Union mit keinem Wort erwähnen,

(Stephan Brandner [AfD]: Was war denn mit der Griechenlandrettung?)

obwohl er gerade in diesen Tagen 25 Jahre alt wird und man eigentlich doch die Gelegenheit hätte nutzen können, mal zu sagen: Die Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland hält ohne Wenn und Aber an den Zielen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes der Europäischen Währungsunion fest.

(Stephan Brandner [AfD]: Das haben Sie jahrelang mit Füßen getreten! Was ist das für eine Heuchelei?)

Das hätten wir eigentlich gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Verschuldung und Zinsentwicklung von Ihnen erwartet, Herr Bundeskanzler.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Die Menschen machen sich nicht nur Sorgen um den Krieg in der Ukraine und die mögliche Ausweitung, sondern auch um die Inflation, die Geldentwertung und die Zinsentwicklung. Je höher die Schulden, umso höher ist die Inflation. Die Situation hätte es durchaus verdient, ein Wort zu den Schulden und zu den Zinsen in der Europäischen Währungsunion zu sagen. Herr Bundeskanzler, Sie haben diese Gelegenheit leider nicht genutzt. Ich will deswegen für uns sagen: Wenn Sie sich an irgendeiner Stelle auf den Weg machen, eine Transferunion und eine Schuldenunion in der Europäischen Währungsunion zu ermöglichen, dann werden Sie dabei auf den erbitterten Widerstand unserer Bundestagsfraktion stoßen,

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Ist ja ganz neu!)

und wir werden alles tun, um genau das zu verhindern.

(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Petry [SPD]: Das ist ja Europapolitik von vorgestern!)

– Den Zwischenruf, dass das von vorgestern ist,

(Zuruf von der SPD: Ja, Sie!)

greife ich gerne auf und freue mich, dass er im Protokoll festgehalten ist. Stabilität in der Währungsunion ist also von vorgestern.

(Nezahat Baradari [SPD]: Sie waren in der letzten Legislaturperiode gar nicht da!)

Diesen Zwischenruf aus der SPD, meine Damen und Herren, den merken wir uns, und darauf kommen wir bei Gelegenheit gerne zurück.

(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Nils Schmid [SPD]: Sie sind von vorgestern! Das ist das Problem!)

Dafür werden die Menschen in Deutschland Ihnen ganz große Dankbarkeit aussprechen.

Lassen Sie mich abschließend einen oder zwei Sätze zum G-7-Gipfel sagen: Es ist eine sehr kluge Entscheidung, Herr Bundeskanzler, einige Länder hier als Gäste einzuladen. Sie haben Südafrika, Senegal, Indonesien, Indien und Argentinien genannt. Über Südafrika kann man streiten und auch darüber, ob es nicht vielleicht sinnvoller gewesen wäre, Australien statt Südafrika einzuladen. Aber immerhin: Sie haben Indien eingeladen. Es ist eine strategisch sehr kluge Entscheidung, dass Sie ein Land, das zu den größten der Welt zählt, dazu einladen, hier über die zukünftige politische Ordnung der Welt mitzudiskutieren.

Wir hätten Ihnen gerne noch ein kleines Gastgebergeschenk mit in Ihr Reisegepäck gegeben.

(Stephan Brandner [AfD]: Frau Merkel!)

Wir hätten nämlich spätestens heute das Handelsabkommen mit Kanada verabschieden können. Dann wäre diese Initiative umso glaubwürdiger gewesen, dass Sie diese Länder einladen.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nur, damit es alle wissen: Ihre Koalition, Herr Bundeskanzler, hat heute Morgen im Wirtschaftsausschuss des Deutschen Bundestages zum fünften Mal hintereinander die Ratifikation dieses Abkommens abgelehnt.

(Julia Klöckner [CDU/CSU]: Exakt!)

Sagen Sie, wenn Sie mit diesen Ländern reden wollen – und Sie müssen mit diesen Ländern reden –, warum sind Sie denn dann nicht in der Lage, Ihrer Koalition mal zu sagen: „Wir verabschieden vor einem solchen großen Gipfel, wo die Kanadier dabei sind, dieses Freihandelsabkommen mit Kanada“?

(Beifall bei der CDU/CSU)

Das wäre wirklich glaubwürdig gewesen. Dann hätten Sie etwas im Gepäck gehabt, auch aus der Mitte des Deutschen Bundestages.

Nun, Sie haben es nicht hinbekommen. Sie schaffen es offensichtlich nicht, Ihre Koalition da zur Vernunft zu bringen. Wir wünschen Ihnen und der Bundesregierung trotzdem viel Erfolg bei diesen wichtigen Gipfeln, die jetzt bevorstehen. Wir bleiben skeptisch – und das werden Sie uns nachsehen, wenn ich das sage –, ob Sie in zwei Wochen wirklich mit den Ergebnissen nach Berlin zurückkehren, die Europa und die auch unser Land in dieser schwierigen Situation jetzt so dringend brauchen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Nächste Rednerin: für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Katharina Dröge.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP – Zuruf von der SPD: Herr Merz, die Hälfte Ihrer Fraktion läuft gerade weg! Wo laufen die denn hin?)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7537430
Wahlperiode 20
Sitzung 43
Tagesordnungspunkt Regierungserklärung EU Rat, G7-Gipfel, NATO-Gipfel
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