23.06.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 44 / Tagesordnungspunkt 13

Ralf StegnerSPD - Einsetzung des 1. Untersuchungsausschusses

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich bin putzmunter. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die dramatischen Bilder vom Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan sind nach wie vor allgegenwärtig, die humanitäre Situation vor Ort ist weiterhin dramatisch. Man kann es nicht oft genug wiederholen: 95 Prozent der Bevölkerung können sich nicht ausreichend ernähren. Das ist eine Katastrophe, die medial kaum beachtet wird. Hinzu kommen massive Gewalt gegen Frauen, schwere Menschenrechtsverletzungen, zu allem Überfluss noch das Erdbeben, das mutmaßlich Tausende Menschenleben gefordert hat. Unsere Gedanken sind bei den Opfern und den Angehörigen. Sie brauchen unsere Hilfe.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN)

Afghanistan befindet sich einmal mehr in einer existenziellen Krise. Wichtige Fortschritte, die die Bundeswehr in Zusammenarbeit mit zivilen Partnerinnen und Partnern der internationalen Gemeinschaft bei der Bildungsarbeit, bei Frauenrechten über viele Jahre erreicht hat, wurden durch die Taliban rückgängig gemacht. Wie kam es zu den fragwürdigen Lageeinschätzungen, zur blitzschnellen Machtübernahme der Taliban und dem hastigen Abzug aus Afghanistan? Der Deutsche Bundestag hat die Pflicht, für eine transparente Aufklärung zu sorgen. Das gilt gegenüber unseren Soldatinnen und Soldaten, gegenüber den afghanischen Ortskräften, die teilweise noch heute in Bedrängnis sind. Sie haben die Arbeit der Bundesrepublik Deutschland und deutscher Organisationen und Institutionen jahrelang unterstützt. Ihnen allen gilt unser großer Respekt und Dank. Alle haben unter extrem schwierigen Bedingungen gearbeitet. Das gilt auch für die zivilen Helferinnen und Helfer. Wir müssen uns schon fragen, ob der Umgang mit Hilfsorganisationen, die wegen der Sanktionen gegen das Talibanregime nicht ins Land dürfen, obwohl sie dort dringend gebraucht werden, an dieser Stelle richtig ist. Ich bedanke mich für die entsprechenden Ankündigungen der Bundesaußenministerin und auch von Staatssekretär Annen heute Morgen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition festgelegt, dass wir die Evakuierungsmission des Afghanistan-Einsatzes in einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufarbeiten. Wir werden den Zeitraum vom Abschluss der Doha-Konferenz 2020 bis zum Abzug der internationalen Streitkräfte untersuchen. Das werden wir parallel zu einer Enquete-Kommission tun. Insgesamt kann das helfen, für zukünftige Auslandseinsätze zu lernen. Und wir werden, lieber Kollege Michael Müller, mit beiden Gremien so gut es geht zusammenarbeiten, auch wenn die Instrumentarien und die Auftragstellungen unterschiedlich sind.

Diejenigen, die einen Untersuchungsausschuss für den gesamten Afghanistan-Einsatz fordern, verkennen, dass zwar manches schiefgegangen ist in 20 Jahren, aber ein solcher Zeitraum unmöglich von einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden könnte. Es ist richtig, das mit der Enquete-Kommission zu tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will an dieser Stelle positiv hervorheben, dass die Union diesen Antrag unterstützt. Genau diesen Geist der Aufarbeitung werden wir brauchen, um hier ganz konkrete Aufklärungsarbeit zu leisten. Denn eines ist doch klar: Es ist ja auch eine besondere Konstellation in Regierung und Opposition, die dazu beitragen sollte, dass dieser Untersuchungsausschuss jedenfalls kein oppositionelles Kampfinstrument wird. Wir haben ein gemeinsames Interesse, über Fraktionsgrenzen hinweg unserer Verantwortung gerecht zu werden.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Was heißt das konkret? Erstens. Wir werden detailliert aufarbeiten, wie es zu der problematischen Lagebewertung kam. Natürlich müssen wir die Frage stellen, warum die Bundesregierung nicht frühzeitig über den drohenden Machtgewinn der Taliban im Bilde war. Wichtig ist auch die Frage, warum die afghanischen Streitkräfte innerhalb von wenigen Tagen von den Taliban überrannt wurden. Lag es an der unzureichenden Ausbildung der afghanischen Soldaten, oder standen tatsächlich große Teile der Bevölkerung hinter der Machtübernahme der Taliban? Hier müssen wir auch in Bezug auf zukünftige Auslandseinsätze ehrlich darüber reden, ob und unter welchen Bedingungen es ein legitimes Ziel von Auslandseinsätzen sein kann, eine Gesellschaft in unserem Sinne umkrempeln zu wollen bzw. einen Regimewechsel anzustreben.

(Beifall bei Abgeordneten der AfD)

Zweitens. Wir werden die Kommunikationswege zwischen den zuständigen Ministerien innerhalb der Bundesrepublik und ihren Partnern aufarbeiten, auch was die internationalen Kontakte angeht. Eine besondere Rolle spielt die Kommunikation mit den Vereinigten Staaten, deren Ex-Präsident Trump maßgeblich den unkoordinierten Abzug der internationalen Streitkräfte zu verantworten hat.

Drittens. Wir werden klären müssen, welche Maßnahmen möglicherweise früher hätten ergriffen werden müssen. Das schließt auch unzureichende Notfallpläne für die deutsche Botschaft sowie Schwierigkeiten bei der Evakuierung und Aufnahme von gefährdeten Ortskräften ein. Denn klar ist doch: Das wird möglicherweise, vielleicht sogar wahrscheinlicherweise nicht der letzte Evakuierungseinsatz sein, der uns drohen könnte, und es ist unsere Pflicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, darauf dann besser vorbereitet zu sein.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das sind drei große Linien, derer sich der Untersuchungsausschuss annehmen wird. Alles andere wird der Verlauf der Arbeit zeigen. Einige Staaten haben übrigens schon begonnen mit der Aufarbeitung. Deutschland ist also gefragt, im internationalen Kontext ebenso seinen Beitrag zu leisten.

In seiner Zeitenwende-Rede hier im Hause hat der Bundeskanzler angekündigt, dass wir mit dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro endlich für eine anständige und zeitgemäße Ausrüstung unserer Soldatinnen und Soldaten sorgen werden. Das gilt für Landes- und Bündnisverteidigung, aber auch für die Auslandseinsätze. Daher ist es auch unser Auftrag, die Erkenntnisse aus dem Afghanistan-Einsatz nun in eine moderne und zeitgemäße Ausrichtung unserer Auslandseinsätze fließen zu lassen.

Lassen Sie uns also an die Arbeit gehen und nach der Konstituierung und der parlamentarischen Sommerpause im Sinne unserer Soldatinnen und Soldaten und der afghanischen Bevölkerung gemeinsam und überparteilich diesen Fragen nachgehen. Dabei geht es uns nicht primär um politische Schuldzuweisungen, sondern darum, Fehler in der Zukunft zu vermeiden. Wir haben die Verantwortung dafür, zu klären, ob alles für unsere Bundeswehr und die Menschen vor Ort getan wurde. Ich bin froh, dass das auch interfraktionell so gesehen wird. Das öffentliche Interesse am Untersuchungsausschuss ist schon jetzt sehr hoch. Lassen Sie uns einfach etwas Gutes daraus machen.

Vielen herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7537596
Wahlperiode 20
Sitzung 44
Tagesordnungspunkt Einsetzung des 1. Untersuchungsausschusses
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