23.06.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 44 / Tagesordnungspunkt 17

Annette Widmann-MauzCDU/CSU - Errichtung eines Dokumentationszentrum 2. Weltkrieg

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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Der Zweite Weltkrieg und die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa sind Geschichte, und doch sind das Erinnern und das Gedenken an deren Opfer kein abgeschlossenes Kapitel. Durch sie bleibt Wissen erhalten, werden wir unserer Verantwortung bewusst, wird Versöhnung möglich. Sie sind stete Mahnung und konstruktive Motivation – jetzt und für die Zukunft.

Wie man mit Geschichte umgehen, sie unterschiedlich erzählen, interpretieren und erinnern kann, zeigt uns im Moment auf ganz besonders perfide Weise Wladimir Putin. Seine haltlosen Darstellungen und Deutungen des Zweiten Weltkriegs sind Ausdruck eines politischen Kalküls, kollektive Ängste und Gefühle der Vergangenheit neu zu beleben. Historische Unwahrheiten werden so zur Propaganda- und Kriegswaffe.

Weshalb Verantwortung zu übernehmen so wichtig ist und wir dafür nicht zwangsläufig erst nach Russland blicken müssen, zeigen die antisemitischen Darstellungen auf der Documenta. Wer wie Sie, Frau Staatsministerin Roth, das Problem über Monate ignoriert und kleinredet, hat die Verantwortung aus unserer Geschichte noch nicht gänzlich begriffen. Das ist ein politischer Skandal.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Auch deshalb brauchen wir ein Dokumentationszentrum, das die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzungsherrschaft in Europa dokumentiert, die einzelnen, oft national geprägten Aspekte verbindet und in einer europäischen Perspektive vermittelt. Ein Dokumentationszentrum, das sich mit der nationalsozialistischen Kriegs- und Besatzungspolitik in heute 27 europäischen Ländern auseinandersetzt und die Verbrechen und die extreme Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung sowie die Verfolgung von ganzen Bevölkerungsgruppen darstellt, ist eine politische, wissenschaftliche und finanzielle Herausforderung.

Wie anspruchsvoll die Erarbeitung eines solchen Konzepts und dessen Umsetzung ist, zeigt der vorliegende Entwurf. Auch ich schließe mich dem Dank an Raphael Gross und die Beteiligten an. Nicht nur die große geografische Breite und die historischen Unterschiede in der Besatzungspraxis in Europa, sondern auch die Tatsache, dass es sich um ein Projekt des Landes handelt, in dessen Namen der Krieg begonnen und die Verbrechen begangen wurden, erfordern eine besondere Sorgfalt und Sensibilität. Der vorgelegte Vorschlag begegnet dieser Herausforderung konzeptionell, indem spezifische Handlungsmuster der Kriegs- und Besatzungsverbrechen herausgearbeitet und systematisiert in einer länderübergreifenden Perspektive zusammengefasst werden. Ob diese Herangehensweise den zum Teil sehr unterschiedlichen nationalen Ausprägungen und folglich auch den unterschiedlichen Opfererfahrungen gerecht wird, werden wir noch intensiv zu diskutieren haben.

Neben der Opferperspektive charakterisiert diesen Realisierungsvorschlag die Darstellung der Zusammenhänge zwischen Eroberungskrieg, Rassenideologie, Besatzung und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, so wie es bereits aus den Protokollen der Wannseekonferenz hervorgeht. Gerade deshalb darf weder die Perspektive auf die Täter und die Rolle der Wehrmacht noch die Verantwortung von Mittätern und die Bedeutung von Kollaboration in den Hintergrund geraten, auch wenn wir wissen, dass dieser Blick bei uns wie in den damals besetzten Ländern noch immer schmerzhaft und kontrovers besetzt ist.

Wichtige Erkenntnisse über den Krieg, über das Leid, die Zerstörung und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die im Zusammenhang mit den Kriegshandlungen stehen, dürfen darüber hinaus auch nicht verloren gehen. Auch schwer zu erfassende Kriegsverbrechen wie sexualisierte Gewalt müssen noch mehr Beachtung und vor allen Dingen explizite Würdigung finden. Denn damals wie heute sind Vergewaltigungen von Frauen eine Waffe im Krieg zur lebenslangen Demütigung des jeweiligen Gegners. Das dürfen wir so nicht stehen lassen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ein einheitliches und gemeinsames würdiges Gedenken an die Opfer, auch die bislang weniger beachteten, bleibt unbestritten eine besonders schwierige Aufgabe. Ein lediglich individuelles Gedenken, so wie es in der Konzeption vorgeschlagen wird, bleibt aber hinter dem Auftrag des Deutschen Bundestages zurück.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Dokumentationszentrum ist in seiner Dimension und in seiner Bedeutung für unser historisches Gedächtnis, unser nationales Selbstverständnis und die deutsche Verantwortung in Europa das vermutlich größte kulturpolitische und historische Projekt der Gegenwart. Dem müssen Größe, Struktur und Governance entsprechen. Neben der inhaltlichen Konzeption wird auch darüber – und das nicht nur aus haushalterischer Sicht – intensiv zu diskutieren sein; denn dieses Projekt ist zu wichtig. Die Debatte heute kann deshalb nur der Ausgangspunkt einer umfassenden Auseinandersetzung im Parlament und mit der nationalen und europäischen Öffentlichkeit sein –

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Kollegin.

– mit dem Ziel, zu einer möglichst breit getragenen Entscheidung zu kommen, auf dass das Dokumentationszentrum ein Beitrag Deutschlands zum Frieden in Europa werde.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und des Abg. Erhard Grundl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Letzter Redner in dieser Debatte ist Helge Lindh für die SPD-Fraktion.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7537659
Wahlperiode 20
Sitzung 44
Tagesordnungspunkt Errichtung eines Dokumentationszentrum 2. Weltkrieg
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