Sebastian FiedlerSPD - Kinderschutz vor Datenschutz
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich will versuchen, nicht ganz so parteipolitisch-polemisch zu beginnen,
(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)
am Ende will ich aber durchaus darauf zu sprechen kommen. Ich will das Thema etwas breiter aufmachen. Ich will zunächst einmal am Anfang und am breitesten über die Opfer sprechen, anschließend über Ermittlerinnen und Ermittler und andere, die mit dem Thema zu tun haben, dann nur ganz kurz über die Täter und am Ende über die Politiker.
Zunächst einmal würde ich Sie bitten: Schauen Sie sich mal hier im Plenarsaal um, schauen Sie sich um, wenn Sie auf den Gängen unterwegs sind. Vergegenwärtigen Sie sich, dass mehrere Tausend Menschen hier im Deutschen Bundestag arbeiten, und denken Sie in den nächsten Tagen daran, dass Sie alltäglich in die Augen von Menschen schauen, die in ihrer Vergangenheit – als Kind, als Jugendlicher – sexuelle Gewalt erfahren haben. Alles, was wir dazu wissen, legt uns nahe, dass es genau so ist.
Wir sprechen häufig über Schülerinnen und Schüler. Wir wissen – Sie kennen diese Zahlen –: Es gibt ein bis zwei betroffene Kinder pro Klasse. Sie kennen die Zahlen aus dem Hellfeld: 15 500 Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs. Das sind etwa 42 Fälle im Hellfeld pro Tag, das heißt, Dunkelfeld eingerechnet, mehrere Hundert pro Tag. Das ist die Größenordnung; das sagt die Statistik.
Was steckt konkret dahinter? Herr Professor Krings hat es angedeutet; ich will es noch etwas klarer aussprechen und am Ende deutlich machen, warum ich das tue. Damit es nicht so abstrakt bleibt, nehmen wir den Fall aus Wermelskirchen: Das jüngste Opfer war einen Monat alt, ein Säugling. Wir sprechen über penetrierte Säuglinge. Mehr als die Hälfte der Opfer ist jünger als drei Jahre alt gewesen. Es geht um Kinder mit Behinderungen. Manche Kinder und Jugendliche müssen über Jahre sexualisierte Gewalt ertragen.
Hinzu kommt noch das ganze Thema, das wir noch gar nicht ausgiebig besprochen haben: das Thema der Misshandlungen: Zwei bis drei Kinder kommen – im Durchschnitt der letzten Jahre – pro Woche zu Tode. Etwa 4 000 Fälle körperlicher Misshandlung stehen jedes Jahr in der Statistik.
Nur ein kurzer Blick auf das, was die Szene ausmacht, diese fürchterliche Szene: Europol macht deutlich, welche Bedeutung Peer-to-Peer-Netzwerke, Darknet-Netzwerke haben. Diese Computerumgebungen, diese Plattformen sind nach wie vor der wichtigste Zugang zu diesem Darstellungsmaterial. Dieses Material wird auch im nichtkommerziellen Bereich in großem Stil verbreitet, teilweise gibt es aber auch Schnittstellen zur kommerziellen Verbreitung. Für Straftäter bedeuten diese Computerumgebungen ein Höchstmaß an Anonymisierung.
Das Livestreaming – darauf möchte ich Ihre Aufmerksamkeit richten – ist ein neuer Trend; muss man leider sagen. Dabei werden Kinder in Übersee misshandelt, und von westlichen Menschen wird sich das hier angeschaut. Es gibt Hinweise darauf, dass die kommerzielle Nutzung dieser perfiden Missbrauchssituationen dazu beiträgt, dass mehr dieser Darstellungen im Umlauf sind. Wir haben einen Live-Fern-Missbrauch, der sich als Trend abzeichnet.
Wir haben durch die starke Verbreitung von Smartphones vermehrt die Situation, dass Kinder und Jugendliche dazu angeleitet werden, von sich selbst Aufnahmen zu machen. Das Ganze dient zur sexuellen Erpressung.
Wir haben Gott sei Dank viele Ermittlerinnen und Ermittler – das ist das nächste Kapitel; dazu will ich zwei Sätze sagen –, wir haben viele Menschen, die sich darum kümmern, dieses Zeug aufzuarbeiten, die die Töne und die Schreie mit in den Schlaf nehmen. Wir haben viele, die in Jugendämtern und bei NGOs mit diesen Themen zu tun haben. Wir haben Therapeutinnen und Therapeuten, die sich um die Traumatisierungen kümmern. Wir haben engagierte Betroffene und eine neue Missbrauchsbeauftragte. – Ich glaube, an dieser Stelle können wir einen Applaus für diese Menschen in der Bundesrepublik als großen und aufrichtigen Dank unterbringen.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Und wir haben die Täter. Aus guten Gründen werde ich nur wenig Zeit darauf verwenden. Die Täterstrategien sind von großer Bedeutung. Die Vernetzung spielt eine Rolle. Sie tauschen sich darüber aus: Was passiert, wenn jemand erwischt wird? Sie lernen forensisch daran.
Und wir haben – das habe ich angedeutet; das ist der entscheidende Punkt; und ich habe durchaus die Gewichtung meines Wortbeitrages gut gewählt – die Politikerinnen und Politiker. Wir haben Politiker in der Ampelkoalition, die das Thema – deswegen habe ich sehr viel Zeit auf die Darstellung der unterschiedlichen Opferszenarien, der unterschiedlichen Tatszenarien aufgewandt – ganz breit angehen und die insbesondere auf diejenigen hören, die entweder Betroffene sind – die kennen nämlich die Täterstrategien äußerst gut – oder die bei den Ermittlerinnen und Ermittlern arbeiten. Ich bin jemand, der genau aus diesem Bereich kommt.
Wir tun sehr viel. Der Pakt für den Rechtsstaat steht im Koalitionsvertrag und wird ausverhandelt. Deswegen wird es nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch in anderen Bundesländern hoffentlich mehr engagierte Menschen geben, die in diesen Bereichen arbeiten. Das Bundeskriminalamt wird gestärkt. Wir machen was bei der Technik. Wir machen ein ZITiS-Gesetz und versuchen dort, technisch weiter zu unterstützen. Wir haben in unserer Fraktion gleich mehrere Arbeitsgruppen zu diesem Thema eingerichtet, um es breit anzugehen.
Wir haben uns mit der Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus getroffen. Wenn Sie wissen wollen, was noch alles zu tun ist, dann rate ich Ihnen: Schauen Sie sich ihre Interviews an, und schauen Sie, was dort alles zu tun ist. Ich jedenfalls kann für unserer Fraktion sagen, dass sie unsere vollste Rückendeckung und Unterstützung hat für ihre Vorhaben, die sie schon öffentlich kundgetan hat und die sie weiter vorantreibt. Zwei Beispiele dafür: Auf der einen Seite das Engagement für Betroffenenräte in den Ländern, und auf der anderen Seite werden Sie noch in diesem Herbst eine großangelegte Kampagne sehen, die für die Sensibilisierung der Bevölkerung sorgen soll.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)
Deswegen – das kann ich Ihnen nicht ersparen, Herr Krings – treffen Sie auf einen Punkt, von dem Sie wissen, dass es Einigkeit an bestimmten Stellen gibt; wir haben uns in der Vergangenheit häufig darüber ausgetauscht. Was ich Ihnen vorwerfe, ist eine bestimmte Passage im Antrag, bei der Sie so tun, als würde sich die ganze Ampelkoalition vor diesem Thema wegducken. Denn es gibt zu dieser einen Frage – und das zerren Sie sehr billig in die Öffentlichkeit – zwei Stellungnahmen: eine des Bundesjustizministers und eine der Bundesinnenministerin. Sie nutzen diesen Teil zulasten derjenigen, die ich alle aufgezählt habe, parteipolitisch aufs Übelste aus. Das werfe ich Ihnen hier vor.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Sie stellen einen Zusammenhang her, der bedeutet, nur durch die IP‑Adressen sei das Thema zu lösen. Deswegen will ich noch zwei Anmerkungen machen. Meine ganz persönliche Haltung, die wir durchaus diskutieren, ist, dass wir die Möglichkeiten, die der Europäische Gerichtshof uns gegeben hat, nutzen sollten und IP‑Adressen speichern sollten. Ich bin absolut auf der Seite unserer Bundesinnenministerin.
(Zuruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU])
Wir können aber sicher sein, dass wir das zuerst in der Ampel auf der Grundlage der Argumente, die wir haben, diskutieren. Das müssen wir nicht anhand Ihres Antrages hier machen.
Letzter Satz. Gehen Sie mit mir den Weg – da sind wir hoffentlich alle einig – und folgen der Missbrauchsbeauftragten, die da sagt: Wir müssen die Tabus reißen. – Deswegen habe ich versucht, es möglichst konkret zu machen. Es darf kein gesellschaftliches Tabu sein. Sie vergleicht es zu Recht mit dem Brandschutz. Wir müssen all den Fragen, die so schmerzlich und übelst in der Mitte unserer Gesellschaft, quer durch alle gesellschaftlichen Schichten, vorhanden sind, ins Auge schauen. Also reden wir über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen wie über den Brandschutz, und folgen wir ihrer Idee. Ich hoffe auf große Einigkeit zumindest in dieser Frage.
(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Reden ist gut, handeln noch besser!)
Lassen Sie uns das ohne Ideologie an dieser Stelle weitertreiben und den Opferinnen und Opfern den Vorzug geben.
(Thorsten Frei [CDU/CSU]: Opferinnen?)
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)
Nächster Redner: für die AfD-Fraktion Gereon Bollmann.
(Beifall bei der AfD)
Quelle | Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen |
Quellenangabe | Deutscher Bundestag via Open Parliament TV |
Abgerufen von | http://dbtg.tv/fvid/7537775 |
Wahlperiode | 20 |
Sitzung | 45 |
Tagesordnungspunkt | Kinderschutz vor Datenschutz |