24.06.2022 | Deutscher Bundestag / 20. WP / Sitzung 45 / Zusatzpunkt 9

Carmen WeggeSPD - Kinderschutz vor Datenschutz

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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der demokratischen Parteien! Sehr geehrte Damen und Herren! Die heutige Debatte – wir haben es gerade gesehen – ist ein Musterbeispiel aus dem Lehrbuch, aus dem ewigen Klassiker „Wie fordere ich mehr anlasslose Überwachung?“.

(Zuruf der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU])

Ich erkläre das kurz: Man nehme ein Verbrechen, das wirklich jeder schrecklich findet, zum Beispiel Terrorismus, sexuelle Gewalt gegen Kinder. Man fordere dann technische Lösungen, die man schon immer wollte; hier den Klassiker der Union, die Vorratsdatenspeicherung. Man erntet den großen Aufschrei der Bürgerrechtler/-innen. Man schlägt zurück und bezeichnet alle differenziert Abwägenden oder vorsichtigen Grundrechtsschützer/-innen als Täterschützer.

(Nina Warken [CDU/CSU]: Seit wann wägen Sie denn ab? Davon hat man vorhin nichts gehört!)

Man ruft laut „Kinderschutz vor Datenschutz!“, und ruckzuck hat man eine wunderschöne Diskussion, bei der sich zwei laut brüllende Gruppen auf die Bäume jagen und sich von den Baumkronen aus streiten.

Aber dieses Spiel mache ich persönlich nicht mit, ich trage gerne zu etwas Ruhe und Differenziertheit in der Debatte bei.

(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Stephan Brandner [AfD]: Merkt man gar nicht!)

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder müssen wir bekämpfen. Wir brauchen natürlich auch technische Lösungen, aber vor allem eine Stärkung der Prävention. Ich will Ihnen in drei Schritten gerne erläutern, wie wir als SPD-Fraktion diese Debatte führen wollen:

Der erste Schritt. Trauen wir uns, genauer hinzuschauen und nicht auf der Empörungswelle zu reiten! Worüber sprechen wir beim Gegenstand Ihres Antrags? Anlass Ihres Antrags war der Anstieg der Zahl der Fälle, der sich aus der aktuellen Sonderauswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik ergibt. Von 2020 auf 2021 haben sich die Anzeigen zum Straftatbestand „Herstellung, Besitz und Verbreitung kinderpornographischer Inhalte“ verdoppelt. Was steckt hinter diesem Anstieg? Ich möchte Ihnen gerne drei Gründe nennen.

Erstens. In den letzten Jahren haben BKA und LKAs, aber auch die Staatsanwaltschaften ihre Kapazitäten zur Ermittlung von Onlinekriminalität stark ausgebaut. Wenn mehr Polizistinnen und Polizisten und mehr Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ermitteln, werden sie auch mehr finden – und das ist auch gut so.

Zweitens. Was zeigt uns die Polizeiliche Kriminalstatistik genau? Sie erfasst die Zahl der Anzeigen und der Verdächtigen und teilt nun also nicht automatisch die Taten und Täter mit und erst recht nicht, wie viele der Ermittlungen am Ende zu rechtskräftigen Verurteilungen geführt haben. Sie hilft uns, uns der Wirklichkeit anzunähern, gibt aber nicht die Wirklichkeit exakt wieder.

Und drittens. 50 Prozent der Tatverdächtigen in der Kategorie „Verbreitung kinderpornografischen Materials“ sind Minderjährige. Die Kinder und Jugendlichen sind zwischen 12 und 17 Jahre alt. Sie tauschen unter Gleichaltrigen Bilder von sich aus, wobei eine pädokriminelle Absicht eher selten unterstellt werden kann.

(Denise Loop [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

Sie werden aber durch diesen Straftatbestand kriminalisiert. Die Innenministerkonferenz hält bereits jetzt eine rechtliche Prüfung zum Umgang mit minderschweren Fällen für erforderlich, da diese Ermittlungen so viele Ressourcen binden.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Alles nicht so schlimm!)

Kommen wir zum zweiten Schritt in unserer Debatte. Was bieten Sie als Problemlösung an? Sie wollen eine rein technische Lösung, nämlich eine Pflicht zur sechsmonatigen Speicherung von IP‑Adressen bei den Providern.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Das will Ihre Innenministerin auch!)

Wir verschließen uns technischen Möglichkeiten im Kampf gegen Kindesmissbrauch nicht.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Gut!)

Aber wir wollen technische Möglichkeiten an ihrer Effektivität messen,

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Auch gut!)

inwieweit sie die Ermittler/-innen wirklich unterstützen, Verbrechen zu entdecken und aufzuklären.

(Nina Warken [CDU/CSU]: Dann machen Sie aber mal schneller!)

Die Ermittlungen über IP‑Adressen ist nur ein Ausschnitt davon.

Sie nennen in Ihrem Antrag 19 150 Fälle. In diesen Fällen stand als einziger Identifizierungsansatz lediglich die IP‑Adresse zur Verfügung, die dann aber nicht mehr bei den Providern gespeichert war. Jeder Fall, der nicht aufgeklärt werden kann, muss uns natürlich besorgen. Aber: Wenn Sie mit einer Zahl kommen, dann setzen Sie diese bitte auch ins Verhältnis. Alles andere beschreibt nur einen Teil der Wahrheit. Die rund 19 000 Fälle waren nämlich innerhalb von fünf Jahren, 2017 bis 2021,

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das sagen Sie den Opfern am besten!)

und machten bei insgesamt 302 000 Meldungen nur circa 6 Prozent der Fälle aus.

(Alexander Throm [CDU/CSU]: Das ist zynisch!)

Die Innenministerkonferenz prüft aktuell, welche Sicherungsmechanismen und welche Sicherungszeiten von IP‑Adressen für erfolgreiche Ermittlungsarbeit notwendig erscheinen. Wir sind also schon tätig, aber eben unaufgeregt.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Lukas Köhler [FDP])

Drittens: der große und wichtigste Schritt. Die Lösung von komplexen sozialen Problemen wollen wir auf allen Ebenen denken, auch wenn es mühsam wird. Sie sprechen in Ihrem Antrag vor allem über die Bekämpfung von Abbildungen von sexueller Gewalt gegen Kinder, wenig von der Bekämpfung der direkten sexuellen Gewalt gegen Kinder.

(Anke Domscheit-Berg [DIE LINKE]: Genau so ist es! – Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Wir wollen beides!)

Wir wissen: Jedes Bild online entsteht offline. Das ist das größere Übel. Hier müssen wir nicht nur technische Lösungen im Werkzeugkoffer haben. Wir müssen über Sensibilisierung im sozialen Umfeld von Kindern, über Medienerziehung in Kitas und Schulen, über kinderfreundliche und niederschwellige Meldestellen off- und online sprechen. Ja, das macht Arbeit, das ist kleinteilig und langwierig. Ja, dafür brauchen wir die Kommunen, die Länder, liebe Union,

(Zuruf der Abg. Dr. Silke Launert [CDU/CSU])

die Lehrer/-innen, die Erzieher/-innen, die Sozialarbeiter/-innen im Jugendamt, die Väter, die Mütter – einfach sehr, sehr viele Menschen. Eine Rechtsänderung zur Vorratsdatenspeicherung mag da bequemer erscheinen,

(Dr. Silke Launert [CDU/CSU]: Nein!)

ist aber nicht so wirksam wie echte Prävention und gesellschaftliche Debatten über echten Kinderschutz.

(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Dann legen Sie doch mal was vor!)

Und zuletzt, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union: Wer Kinder schützen will, schützt ihre Rechte. Kinder sind Trägerinnen und Träger von Rechten.

(Nina Warken [CDU/CSU]: Das haben Sie ja vorhin bewiesen, wie Sie die schützen wollen!)

Unterstützen Sie uns doch dabei, Kinderrechte ins Grundgesetz zu schreiben!

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Zuruf der Abg. Nina Warken [CDU/CSU] – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)

Verankern Sie doch den Kinderschutz in Artikel 6 Grundgesetz! Das steht dann nämlich weit vor allen anderen Normen. Und das müsste Ihnen dann ja gefallen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Herr Kollege de Vries, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf für „Sie sind bescheuert“. Dagegen können Sie sich dann wehren. Aber das ist nicht nur unparlamentarisch, sondern eines Ordnungsrufes wert.

Nächste Rednerin ist die Kollegin Denise Loop, Bündnis 90/Die Grünen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Daten
Quelle Deutscher Bundestag, Nutzungsbedingungen
Quellenangabe Deutscher Bundestag via Open Parliament TV
Abgerufen von http://dbtg.tv/fvid/7537786
Wahlperiode 20
Sitzung 45
Tagesordnungspunkt Kinderschutz vor Datenschutz
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